Vor Kurzem wurden an dieser Stelle zwei bundesrepublikanische Mythen untersucht: das „Wirtschaftswunder“ und „68“. Ein weiterer zentraler Mythos der bundesrepublikanischen Zivilreligion ist „Europa“. Um diesen Mythos soll es im Folgenden gehen.
Im Hintergrund dieses Mythos steht die traumatisierende Erfahrung zweier Weltkriege mit den verheerenden Folgen für hunderte Millionen Menschen. Diese Schreckenserfahrung wird kontrastiert durch die Erfahrung jahrzehntelangen Friedens – zumindest in West- und Mitteleuropa.
Kernbotschaft des Mythos Europa
Vor diesem Hintergrund lautet die Kernbotschaft des Mythos: Der europäischen Einigung verdanken wir den Frieden in Europa. Und (implizit): Es ist alles eine Frage des (guten) Willens. Wir müssen nur wollen.
Die mit dem Mythos – vor dem Hintergrund zweier Weltkriege – verbundene Urangst ist jene vor dem Krieg und – fundamentaler noch – vor dem Tod. Das Gebot dieses Mythos lautet: „Nie wieder Krieg!“ Mitgedacht in diesem ethischen Imperativ ist: Wenn wir keinen Krieg mehr wollen, wird es auch keinen Krieg mehr geben.
Wie sich in den Mythen „Wirtschaftswunder“ und „68“ ein Vulgärmaterialismus bzw. ein Vulgärspiritualismus zeigen, so zeigt sich im Mythos „Europa“ ein Vulgärpelagianismus.
Wie im eigentlichen Pelagianismus die Dimension der Gnade, des Ungeschuldeten und Unverdienten, des Geschenkes, der Gabe ausgeblendet wird, so auch im Mythos „Europa“.
So sehr der Friede in Europa Produkt der europäischen Einigung sein mag, so sehr gilt doch auch umgekehrt, dass die europäische Einigung Produkt des Friedens in Europa ist. Ohne dass schon Frieden in Europa bestand, hätte der Prozess der europäischen Einigung nie beginnen, geschweige denn sich in dieser Weise über Jahrzehnte hinweg entfalten können.
Friede und Einigung: Zwillinge
Der Friede in Europa und die europäische Einigung sind wie Zwillinge, die miteinander geboren und gewachsen sind. Das heißt auch, dass der eine nicht auf den anderen zurückgeführt werden kann, sondern dass es Voraussetzungen jenseits von ihnen geben muss, auf denen beide gründen.
Eine solche Voraussetzung war sicher der entschiedene Wille führender europäischer Staatsmänner zu Versöhnung und Einheit. Aber dieser Wille existierte nicht in einem luftleeren Raum und vor allem: er erreichte auch sein Ziel nicht in einem luftleeren Raum.
Vielmehr bewegte er sich in einem Raum, den er weitgehend vorfand und nur zu einem gewissen Grad beeinflussen konnte. Aber dieser Raum war so gestaltet, dass er die europäische Einigung und den Frieden in Europa ermöglichte, ja begünstigte.
Eine solche Voraussetzung war beispielsweise die starke – und, wenn man ihr Agieren im Anschluss an den 1. Weltkrieg bedenkt, nicht selbstverständliche – Präsenz der USA in Europa, welche durch ihre Übermacht jegliches Streben eines europäischen Staates nach dem Status einer Hegemonialmacht wirkungsvoll unterband – oder doch (wenn man an de Gaulle denkt) zähmte.
Eine andere Voraussetzung war die permanente, latente Bedrohung durch die Sowjetunion, welche jeglicher Eskalation innereuropäischer Uneinigkeiten selbstmörderischen Charakter verliehen hätte. Hier wird deutlich: Auch eine an sich nicht erstrebenswerte oder gute Situation – wie die existentielle Bedrohung durch eine feindliche, fremde Macht – kann sich als Gnade erweisen, insofern sie lebens- bzw. friedensförderliche Wirkungen, wenn nicht zeitigt, so doch (zumindest indirekt) fördert.
Ein weiterer, intrinsischer Faktor war zweifellos der gemeinsame katholische Glaube von Staatsmännern wie Adenauer, Schuman, de Gasperi und de Gaulle, der nationale Egoismen relativierte und den Blick für eine übergeordnete Einheit eröffnete.

Die europäische Einigung kann somit in ihren Ursprüngen also auch als eine Frucht einer grundlegenderen kulturellen Einheit verstanden werden, deren Wurzel im gemeinsamen Kult, der gemeinsamen Anbetung des gemeinsamen Gottes liegt. In diesem Zusammenhang als ikonisch zu bezeichnen sind sicher die Bilder von Adenauer und de Gaulle in der Kathedrale von Reims, dem alten Krönungsort der französischen Könige. Hier ist zweifellos etwas verloren gegangen.
Der Ausschluss von Gnade zu Gunsten einer einseitigen Fixierung auf die Macht des Willens, kommt einem Ausschluss der Transzendenz gleich, welche Europa einsperrt in die Immanenz, in ein Gefängnis der Immanenz.
Europa 5.0
Was mit dem Ausschluss von Gnade bleibt, ist der Mythos, dass es für alles eine rein technische Lösung gibt – wenn wir nur wollen. In diesem Sinne hebt der Transhumanismus den Mythos Europa auf eine ganz neue Ebene: Nicht nur „Nie wieder Krieg!“, nein: „Nie wieder Tod!“ Und das in der totalen Verbundenheit und Einheit in der Cloud. Die Digitalisierung des europäischen Traumes. Europa 5.0.
Wenn der Mythos „Wirtschaftswunder“ uns lehrt „Wir können haben, was wir wollen.“ und der Mythos „68“ „Wir dürfen, was wir wollen.“, dann lehrt uns der Mythos „Europa“: „Wir können, was wir wollen.“
Die Kehrseite: Leiden und Versagen, ja der Tod selbst, haben in dieser Erzählung nichts zu suchen und müssen entsprechend an den Rand gedrängt werden – zumindest im kollektiven Bewusstsein.
Die praktische Konsequenz: Die Auslagerung von Alter und Tod aus der Familie in Alten- und Pflegeheime, für die wir in der Pandemie einen bitteren Preis bezahlen mussten. Aber auch die Propagierung von Selbstmord als ein Recht, für das man Hilfe in Anspruch nehmen darf.
In letzterem Fall geht es darum, den Tod verfügbar, technisch kontrollierbar zu machen und ihm auf diese Weise seinen Schrecken zu nehmen. Was bei all dem allerdings auf der Strecke bleibt ist die Menschlichkeit, zu der eben auch die Endlichkeit, ja der Tod gehört, als etwas Unverfügbares, Unkontrollierbares.
Doch gerade jüngst haben Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg ja Tod und Krieg wieder in das allgemeine Bewusstsein gerückt. So schrecklich beides auch ist, so bietet es doch auch Anlass, innezuhalten, sich von einer technokratischen Denkweise zu lösen und anzuerkennen, dass es bei all unserem Planen und Tun einen Raum der Gnade als Voraussetzung braucht, in dem all dies stattfindet; eine Gnade, die unser Planen und Tun ermöglicht und gelingen lässt, uns aber auch im Scheitern noch umfängt und trägt. Da ist. Auf diese Weise kann dann anerkannt werden, dass Scheitern und Tod, ja auch Schuld – und unser Leiden an all dem, zu unserem Leben als Menschen gehört. Dann müssen wir all das, was uns daran erinnert, nicht länger an den Rand drängen, sondern können es in unsere Mitte holen und dadurch bei allen Tendenzen in Richtung Transhumanismus die so dringend benötigte Menschlichkeit wiedergewinnen, die auch alternden Menschen und Behinderten, Gescheiterten und Schuldiggewordenen ihre Würde belässt. Für ein menschlicheres und solidarischeres Europa.