Jede Gemeinschaft, jedes Gemeinwesen besitzt Mythen, große, (quasi-)religiöse Erzählungen, die Identität stiften, Orientierung bieten und (jedenfalls einen gewissen) Sinn verleihen. Jeder Mythos besitzt einen wahren Kern, aber auch seine blinden Flecken mit entsprechend negativen Konsequenzen.

Im Folgenden soll es in diesem Sinne um zwei der großen bundesrepublikanischen Mythen gehen: den Mythos „Wirtschaftswunder“ und den Mythos „68“. Die Verwendung des Begriffes Mythos soll dabei nicht nahelegen, dass das so Bezeichnete irreal sei. Es soll vielmehr dessen Bedeutung für die bundesrepublikanische Identität, Orientierung und Sinnfindung herausstreichen. Genau hierum soll es auch gehen, nicht um die dem Mythos zu Grunde liegenden Fakten, die als bekannt vorausgesetzt werden.

Mythos „Wirtschaftswunder“

In kurzen Worten zusammengesetzt besagt der Mythos „Wirtschaftswunder“: Die Weimarer Republik scheiterte an der Weltwirtschaftskrise. Die durch sie ausgelöste Massenarbeitslosigkeit untergrub in den Augen der mittelbar und unmittelbar Betroffenen die Legitimität der Demokratie und bereitete auf diese Weise die Machtergreifung des Nationalsozialismus vor. Auf der anderen Seite garantierte das – durch das legendäre „Wirtschaftswunder“ erfüllte – Versprechen „Wohlstand für alle“ den Fortbestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Nachkriegsdeutschlands.

Dieser, nennen wir es ruhig so, Glaube geht mit einer Urangst einher. Es ist die Angst, das Versprechen könne eines Tages nicht mehr erfüllt werden. Deutschland sei eine „schön-Wetter-Demokratie“ und zögen ökonomische Wolken auf, drohe der Rückfall in dunkelste Zeiten. Das erste Mal wurden solche Befürchtungen laut als in den 60er Jahren das Wirtschaftswunder zu Ende ging und die NPD ihre ersten Erfolge erzielte.

Dieser Mythos begründet, oder rechtfertigt doch, ein Dogma, das da lautet: Was gut für die deutsche Wirtschaft ist, ist auch gut für Deutschland bzw. die Deutschen.

Dieses Dogma entfaltet in doppelter Weise eine normative Wirkung und zwar als Ver- wie als Gebot. Unliebsamen politischen Forderungen kann so etwa der Todesstoß im gesellschaftlichen Diskurs versetzt werden, wenn es erst einmal gelingt, diese als (pot.) Gefährdung des Wirtschaftsstandortes Deutschland darzustellen.

Dies hat auf der anderen Seite zur Folge, dass die politische Durchsetzung großer ökonomischer Transformationsprozesse wie etwa der klimaneutrale Umbau der deutschen Wirtschaft deren Anbindung an den Mythos „Wirtschaftswunder“ erfordert, etwa durch Begriffsschöpfungen wie „ökologisch-soziale Marktwirtschaft“. Hier wird eine zivilreligiöse Tradition sozusagen kreativ fortgeschrieben und auf neue Gegebenheiten angepasst.

Im Bereich der Gebote steht der (zumindest implizite) Anspruch an jeden einzelnen von uns, seinen Beitrag zu leisten, dass Deutschland auch morgen noch eine stabile Demokratie ist, und dies im Idealfall indem man als Arbeitskraft seinen Beitrag zur Wertschöpfung leistet oder doch, wo dies nicht möglich ist, zumindest als Konsument. Dies macht es erforderlich, dass nicht nur die Volkswirtschaft als Ganzes sowie die einzelnen Betriebe, sondern jeder einzelne von uns seine Wettbewerbsfähigkeit erhält, ja erhöht. Aus einem Recht auf Weiterbildung wird so schnell die Pflicht zur Weiterbildung, ja zur Selbstoptimierung.

Die Kehrseite: Der Wert einer Sache – und zunehmend jedes einzelnen Menschen – ergibt sich (ausschließlich) aus seiner Verwertbarkeit – als Arbeitskraft oder als Konsument. Wer – wie Ältere – nicht mehr oder – wie manche Behinderte – grundsätzlich nicht verwertbar ist, steht dann vor einem Problem: Welchen Wert soll so ein Leben dann noch haben? Muss Sterbehilfe dann nicht eine Erlösung für solch eine Existenz sein? Der Mythos Wirtschaftswunder macht solch eine Logik zumindest plausibel.

Um zur Trias Identität – Orientierung – Sinn zurückzukehren: Mit den aus dem Mythos abgeleiteten Ge- und Verboten ist bereits deutlich geworden, inwiefern der Mythos Wirtschaftswunder der deutschen Gesellschaft Orientierung bietet im Sinne einer Handlungsanleitung.

Auch eine Antwort auf die Sinnfrage ist hierin bereits enthalten: der Sinn besteht darin, durch unseren Beitrag zum Bruttosozialprodukt am Erhalt des freien, demokratischen Deutschlands und das heißt am Erhalt von Wohlstand – und davon abhängig auch Freiheit und Frieden – für alle mitzuwirken.

Mythos

Schließlich ist damit auch die Identitätsfrage geklärt: „Wir“ sind eine Wohlstands- und Leistungsgesellschaft. Im Umkehrschluss heißt das: Wer nichts oder nur wenig hat und wer nichts leistet, gehört nicht dazu. Im gesellschaftlichen Diskurs heißt das dann: Gesellschaftliche Teilhabe geht über Arbeit. Gesellschaftliche Teilhabe geht über Bildung (insofern, so muss man ergänzen, sie zu Arbeit befähigt).

Natürlich steckt im Mythos Wirtschaftswunder auch ein wahrer Kern: Menschen sind endliche Wesen und haben Bedürfnisse, die gestillt werden müssen.

Der fatale Irrtum besteht jedoch in der Annahme, dies sei allein Aufgabe der Wirtschaft – bzw. in einer sozialen Marktwirtschaft eine Frage des Zusammenspiels von Staat und Markt.

Auf diese Weise werden Staat und Markt eine Bedeutung zugesprochen, die sie gegen jegliche Kritik immunisiert. Jedoch gibt es, worauf Papst Benedikt XVI. in „Caritas in Veritate“ hingewiesen hat, neben Staat und Markt noch einen dritten Raum: die Zivilgesellschaft.

Zweifellos hat Deutschland eine rege und lebendige Zivilgesellschaft. Tatsache ist, dass eine starke Zivilgesellschaft mindestens so bedeutsam für das Überleben einer freiheitlichen Demokratie ist wie die Erfüllung des Versprechens „Wohlstand für alle“.

Der Mythos Wirtschaftswunder trägt jedoch dazu bei, diese Wahrheit zu überlagern zu Gunsten eines Primats der Wirtschaft, eines Primats des Marktes, die dazu führen, dass der Markt – und der Staat – ureigene Bereiche der Zivilgesellschaft aufsaugen und auf diese Weise das zivilgesellschaftliche Leben übermäßig beschneiden anstatt es zu fördern und zu stützen.

Natürlich braucht auch die Zivilgesellschaft eine stabile Wirtschaft, ebenso aber auch der Markt eine lebendige Zivilgesellschaft. Statt sich also einseitig von der Frage leiten zu lassen, was gut für die deutsche Wirtschaft bzw. für den Wirtschaftsstandort Deutschland sei, sollte diese Frage ergänzt werden durch die Fragen, was gut für die deutsche Zivilgesellschaft ist und was gut für jene intermediären Gemeinschaften ist, aus welchen sich die Zivilgesellschaft zusammensetzt, angefangen bei Ehen und Familien bis hin zu Vereinen und Verbänden.

Hierzu gehört auch anzuerkennen, dass – wie Jesus Christus im Evangelium sagte – der Mensch nicht vom Brot alleine lebt. Dass es also Bedürfnisse gibt, die der Markt, die Wirtschaft und auch der Staat nicht stillen können, die aber dennoch staatlicherseits, politischerseits gebührender Beachtung bedürfen, um nicht unter die Räder jener Bedürfnisse zu geraten, die genuin in die Zuständigkeit von Staat bzw. Markt fallen. Hierzu gehört nicht zuletzt das Bedürfnis nach Sinn, der sich auch nicht im Broterwerb erschöpfen lässt. Denn auch in diesem Sinne gilt, dass der Mensch nicht allein vom Brot lebt.

Mythos „68“

Der Mythos „68“ geht davon aus, dass der äußeren Befreiung 1945 keine innere Befreiung entsprach. Der „Geist von ’33“ wirkte vielmehr über das Ende des nationalsozialistischen Regimes fort. Es brauchte daher zusätzlich einer inneren Befreiung, in der, wie in einem Exorzismus, der „Geist von ’33“ ausgetrieben und durch einen neuen Geist, den „Geist von ’68“, ersetzt wurde.

Dieser „Geist von ’68“ ist ein Geist der Freiheit, im Anfang regelrecht anarchisch in seiner Auflehnung gegen die Autoritäten in Staat und Gesellschaft, aber auch die Autorität von Normen und Konventionen, was die sexuelle Revolution als Befreiung von sexuellen Normen und Konventionen zu einem wesentlichen Moment dieses Mythos macht; heute eher konservativ und fast schon defensiv in seinem Bemühen, die so erreichte Vielfalt rechtlich anzuerkennen und zu bewahren, die sozialen Experimente früherer Jahrzehnte zu kodifizieren, in Gesetzestexte zu fassen. Hierin steckt auch ein bisschen die Gefahr der Selbstzerstörung, insofern zur Absicherung des erreichten antiautoritären Zustandes sich autoritärer Mittel bedient wird.

Die Urangst, die mit jenem Mythos verbunden ist, ist jene vor der Unfreiheit, vor der Rückkehr des Faschismus, der Wiederkehr des „Geistes von ’33“.

Die sich aus diesem Mythos ergebende Moral ist beispielhaft zusammengefasst in dem Ausspruch „Wer zweimal mit derselben pennt gehört schon zum Establishment.“

„Das Establishment“ ist hier Chiffre für jene beharrenden, autoritären Strukturen und Personenkreise, die als solche potentielle Träger des „Geistes von ’33“ sind und damit schon allein durch ihre Existenz eine latente Bedrohung darstellen.

Im heutigen Diskurs haben „die alten weißen Männer“ den Platz des Establishments eingenommen – dem Umstand geschuldet, dass die Vertreter des „Geistes von 68“ längst selbst im Establishment angekommen sind.

Man kann also sagen: „Wer zweimal mit derselben pennt“ ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Der fortgesetzte Tabubruch wird so zum moralischen Gebot. Der einmal vollzogene Exorzismus ritualisiert und so zur permanenten Revolution verstetigt.

In diesem Sinne kann der eben zitierte Satz in folgender Weise als „kategorischer Imperativ nach ’68“ neu formuliert werden: „Handle stets nach der Maxime, dass hierdurch Bestehendes in Frage gestellt wird.“ Aufgrund der engen Verbindung von „’68“ mit der sexuellen Revolution gilt dies insbesondere für den sexuellen – und in Erweiterung familiären – Bereich.

Wieder zurück zur Trias Identität – Orientierung – Sinn. Der eben erwähnte kategorische Imperativ gibt die erforderliche Orientierung vor. Der Sinn des Ganzen besteht im fortgesetzten Abwehr- und Vernichtungskampf gegen den „Geist von ’33“. „Wir“ sind „die Guten“, die Antifaschisten, jene, die auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, auf der Seite des Fortschrittes, die moralisch Reinen, Integren.

Wie beim Mythos Wirtschaftswunder enthält auch der Mythos 68 einen wahren Kern: Der Mensch ist nicht nur begrenztes Wesen. Er ist auch Geistwesen und als solches zur Freiheit bestimmt. Gewalt und Zwang sind menschenunwürdig.

Der fatale Irrtum von „68“ besteht jedoch in einer doppelten Verabsolutierung dieser Wahrheit.

Einerseits wird der Mensch als Geistwesen in radikaler Weise von seiner Körperlichkeit entkoppelt. Einen Beitrag hierzu hat auch die technische Entwicklung geleistet. Mit der „Pille“ wurde es möglich, den weiblichen Hormonhaushalt zu manipulieren, den weiblichen Zyklus zu unterdrücken und so Frauen maximal sexuell verfügbar zu machen. Die Doktrin „freier Liebe“ trug das ihre hierzu bei.

Der weibliche Körper wird so auf doppelte Weise zu einem veräußerlichten Objekt. Für die Frau wird er zum Objekt chemischer Manipulation, für den Mann zum Objekt des Gebrauchs, frei vom Risiko der Verantwortung einer Vaterschaft, mit der Möglichkeit der Abtreibung als Rückversicherung.

Inzwischen wird dank künstlicher Befruchtung der weibliche Körper im Rahmen der – in Deutschland noch illegalen – Leihmutterschaft zum Mietobjekt und zur Produktionsstätte gleichgeschlechtlicher sowie zeugungsunfähiger Paare für „ihren“ Nachwuchs. So wird der Körper auf einen reinen Gegenstand reduziert und da die menschliche Person nicht losgelöst von ihrem Körper betrachtet werden kann, ebenso diese. Der jüngste Schritt in dieser Entwicklung ist allerdings der Transhumanismus als ultimative Emanzipation von der eigenen Körperlichkeit und – so jedenfalls gedacht – damit vom Tod.

Diese Entkopplung des Menschen von seinem Körper ist verbunden mit der Entkopplung der Freiheit von der Wahrheit. Bereits in der Manipulation des (weiblichen) Körpers liegt die Verleugnung der eigenen Körperlichkeit, die Weigerung, auf die Signale des eigenen Körpers zu hören, ja ihn überhaupt sprechen zu lassen. Schon hier wird also die eigene (Wahl)Freiheit in Stellung gebracht gegen die Wahrheit, in diesem Fall der eigenen Körperlichkeit.

Unversehens rückt so die Wahrheit selbst in die Position einer freiheitsberaubenden, unterdrückerischen Autorität, gegen welche es sich aufzulehnen gilt. Das Konzept von Wahrheit wird so selbst fragwürdig. Wissenschaft wird als Ideologie diskreditiert. Jeder hat „seine“ Wahrheit, die aber nicht zur Diskussion gestellt werden darf, ja kann. „Fake News“ sind nichts weiter als alternative Fakten.

Am Ende gibt es überhaupt keine Wahrheit mehr und die ganze Geschichte ist nichts weiter als ein fortgesetzter Kampf zwischen Einzelnen bzw. Gruppen um Macht und die einzig entscheidende Frage lautet: Wer setzt sich durch? Dann geht es nicht mehr um Kommunikation, das heißt um die Herstellung von Gemeinschaft durch Dialog, sondern allein darum, den anderen zum Schweigen zu bringen, ihn mundtot zu machen. Cancel Culture.

Letztlich besteht der Irrtum von „68“ im Angelismus, darin, den Menschen auf ein Geistwesen zu reduzieren und damit seine Körperlichkeit und seine Geschichtlichkeit auszublenden sowie die Grenzen, die beide seiner Freiheit setzen.

Diese Grenzen gilt es daher wiederzuentdecken und hierzu gehören auch die Grenzen, die die Begrenztheit unseres Planeten dem Konsum setzt.

Eine neue Kultur – Eden Culture

Interessant ist, dass der Mythos „Wirtschaftswunder“ der „Lieblingsmythos“ des bürgerlichen Lagers ist, während der Mythos „68“ diese Funktion für das linke Lager erfüllt. Bemerkenswert ist dabei auch, wie gerade Parteien, die sich selbst ein christliches Menschenbild attestieren, damit einer Art Vulgärmaterialismus anhängen, wohingegen die säkulare, materialistische Linke defacto einem Vulgärspiritualismus folgt.

Aus einer christlichen Perspektive bleibt noch anzumerken, wie sehr doch die bundesrepublikanischen Mythen radikal im Widerspruch zum Geist des Evangeliums stehen.

Das Versprechen „Wohlstand für alle“ ist ein direkter Angriff auf den evangelischen Rat der Armut. Der antiautoritäre „Geist von ’68“ ist ein ebenso direkter Angriff auf den evangelischen Rat des Gehorsams, während die sexuelle Komponente dieses selben Geistes den evangelischen Rat der Keuschheit attackiert.

Diese Beobachtung zeigt zweierlei: einmal in Bezug auf die Bundesrepublik, dass die sie definierenden Mythen bereits von ihrem Beginn an die Mythen einer postchristlichen Gesellschaft waren und sind. In Bezug auf die Kirche wiederum erklärt dies einerseits, weshalb die christliche Botschaft nicht mehr durchdringt, nicht einmal mehr verstanden, ja inzwischen sogar mehr und mehr angefeindet wird.

Für die durch ihre Mythen geprägte postchristliche bundesrepublikanische Gesellschaft ist das Evangelium wirklich wieder anstößig geworden, eine Torheit und ein Frevel. Andererseits zeigt dies auch, wie sehr die Kirche als prophetische Stimme benötigt wird, wie sehr auch die deutsche Mentalität immer noch der Läuterung bedarf, der Metanoia – des Umdenkens.

Zugleich stellt sich aber auch umso dringlicher die Frage, wie es der Kirche vor diesem Hintergrund überhaupt gelingen soll, wieder in das Gespräch mit einer so radikal postchristlichen Gesellschaft wie der unsrigen zu kommen.

Eine mögliche Antwort liegt in der vom Gründer und Leiter des Gebetshauses Augsburg, Dr. Johannes Hartl, initiierten „Eden-Culture“-Bewegung. Die drei von ihm in seinem Buch „Eden Culture“ präsentierten „Geheimniss“ – Verbundenheit, Sinn und Schönheit – bieten einen Schlüssel zur dringend benötigten Korrektur deutscher Einseitigkeiten. Schauen wir uns dies einmal genauer an.

Verbundenheit

Verbundenheit zu erfahren ist eines der tiefsten Bedürfnisse von uns Menschen. Ein „Zeichen der Zeit“, an dem man dies gut erkennen kann, ist – bei all den damit verbundenen Fragwürdigkeiten – die enorme und ungebrochene Popularität der sozialen Medien. Wir sind eben nicht nur Geistwesen, die nach Freiheit verlangen, sondern ebenso soziale Wesen, die nach Beziehung und Gemeinschaft dürsten.

Verbundenheit hängt auf das Engste mit der Körperlichkeit und Geschichtlichkeit von uns Menschen zusammen. Es ist unser Körper über den und mit dem wir in Verbindung zu unserer Umwelt und auch zu unseren Mimenschen treten und so dann auch Verbundenheit erfahren. Ohne ihn wären wir für andere nicht wahrnehmbar und auch wir selbst würden nichts wahrnehmen, geschweige denn, dass wir Verbundenheit erleben würden.

Die tiefste Verbundenheit bis hin zur körperlichen Vereinigung können wir beim Sex erleben. Hier öffnen wir unser Intimstes füreinander und zugleich öffnen wir uns für die Möglichkeit, dass da noch ein ganz anderer Mensch in unser beider Leben hineintritt und uns auf ganz neue und tiefe Weise mit ihm und uns untereinander verbindet – durch das Band der (gemeinsamen) Elternschaft. Dies zeigt auch: Keine Verbundenheit ohne das Eingehen von Bindungen, ohne die Selbstbeschränkung und Selbstrelativierung von Freiheit.

Bevor wir aber überhaupt über und mit unserem Körper Verbundenheit mit der Welt „da draußen“ erleben können, braucht es zunächst einmal die Verbundenheit mit unserem Körper selbst, müssen wir ihn und seine Signale wahrnehmen, ihm zuhören (durchaus ein bewusster Anklang an den evangelischen Rat des Gehorsams) und mit ihm kooperieren.

Eine wunderbare Weise, dies im Bereich der Sexualität einzuüben ist beispielsweise die „Natürliche Empfängnisregelung“. Hier versucht man tatsächlich, auf die Signale des Körpers zu hören und mit ihnen zu kooperieren – je nachdem, ob eine Schwangerschaft gerade gewünscht ist oder nicht, anstatt die Signale des Körpers einfach mit chemischen Mitteln zu unterdrücken.

Neben der Körperlichkeit braucht Verbundenheit aber auch die Geschichtlichkeit des Menschen. Authentische Verbundenheit ist nicht einfach da, entsteht nicht spontan oder beschränkt sich auf einen flüchtigen Augenblick. Sie braucht Zeit, um zu wachsen und zu reifen. Und dieser Prozess kann auch nicht künstlich beschleunigt werden. Verbundenheit kann nicht erzwungen werden. Sie verlangt vielmehr Offenheit und Geduld, Tugenden, die ebenfalls mit Freiheit zu tun haben, aber mit einer ganz anderen Freiheit als der von „68“ propagierten.

Es ist nicht die Freiheit zu tun, was man will. Es ist ein älteres Freiheitskonzept; eine innere Freiheit gegenüber den eigenen Impulsen und Trieben, die es erlaubt, bewusst und überlegt zu wählen anstatt nur blind den eigenen Trieben und Impulsen zu folgen; was im Übrigen beinhaltet, in einer gewissen inneren Distanz diese Triebe und Impulse zu betrachten und kritisch zu hinterfragen.

Und auch hier ist die Voraussetzung wieder Verbundenheit, diesmal mit dem eigenen inneren Leben. Denn die eigenen Triebe und Impulse zu betrachten und kritisch zu hinterfragen verlangt zunächst einmal, sie überhaupt wahrzunehmen, innerlich wach zu sein. Die Alternative wäre, dass die Triebe und Impulse im Hintergrund schalten und walten, während wir keinerlei (bewusste) Verbindung zu ihnen haben.

Relevant ist die Verbundenheit aber auch für den Mythos „Wirtschaftswunder“. Verbundenheit ist eines jener menschlichen Bedürfnisse, deren Stillung man eben nicht einfach dem Markt oder der Wirtschaft überlassen kann. Verbundenheit lässt sich nicht produzieren und sie lässt sich auch nicht gegen Geld (oder etwas anderes) kaufen und verkaufen. Nur mit der Illusion von Verbundenheit lässt sich handeln.

Selbstverständlich kann man auch im Arbeitsleben Verbundenheit erfahren und für viele ist das tatsächlich vielleicht sogar der einzige Ort, wo dies tatsächlich (oder vermeintlich) der Fall ist. Natürlich sind solche Erfahrungen von Verbundenheit auch für die Arbeitgeber von Interesse, steigern sie doch die Identifikation mit dem Unternehmen und die Motivation bei der Arbeit – und damit die Arbeitsleistung.

Dennoch ist diese Entwicklung eher Symptom eines Defizits als ein in sich erstrebenswertes Ziel. In der Tat ist es gut, wenn Menschen auch auf ihrer Arbeit Verbundenheit erleben. Problematisch wird es jedoch, wenn sie Verbundenheit nur noch dort erleben. Denn bei aller Verbundenheit, die auf der Arbeit erlebt wird: Am Arbeitsplatz ist man am Ende immer ersetzbar. In der Familie ist man das nicht. Auch wenn es vielleicht versucht wird.

So ist Verbundenheit auch eine Antwort auf die Frage nach dem Eigenwert von Menschen, aber auch von Dingen. Wo echte Verbundenheit besteht, wird die Frage nebensächlich, was der andere leistet oder besitzt und auch Menschen, die nichts mehr leisten können oder noch nie etwas leisten konnten und werden, können in ihrem Eigenwert anerkannt werden.

Der Ort, an dem Verbundenheit florieren kann, ist die Zivilgesellschaft, denn hier finden Menschen nicht politisch verordnet oder aus wirtschaftlichem Eigeninteresse zueinander, sondern aus intrinsischer Motivation.

Schönheit

Schönheit bereitet uns Freude, versetzt uns in Staunen und inspiriert uns. Doch was ist eigentlich Schönheit? In seinem Buch „Beauty. What it is & Why it Matters“ beschreibt John-Mark L. Miravalle Schönheit als die Verbindung von Ordnung und Überraschung. Ordnung ohne Überraschung ist einfach nur banal, langweilig. Überraschung ohne Ordnung ist…nun ja, Unordnung, Chaos.

Unordnung, Chaos kann – im Gegensatz zum Banalen, Langweiligen – einen gewissen Reiz auf uns ausüben. Das Schockierende, Abnormale, Anstößige überrascht uns und diese Überraschung hat eine belebende Wirkung auf uns – ob wir diese Überraschung nun als etwas Angenehmes oder Unangenehmes erleben. Diese belebende Wirkung kann als erstrebenswert erlebt und daher angestrebt werden – wird dies jedoch um einen Preis.

Denn es besteht ein gewisser innerer Zusammenhang zwischen Ordnung und Überraschung einerseits sowie Wahrheit und Freiheit andererseits. Im menschlichen Bereich ist Freiheit Voraussetzung dafür, dass es zu Überraschungen kommen kann. Ein Mangel an Freiheit zieht daher Langeweile und Banalität nach sich. Das ist sicher ein ganz wichtiger Grund für die große Attraktivität von Freiheit. Ohne Freiheit keine Schönheit.

Es gilt aber auch: Ohne Wahrheit keine Schönheit. Denn wo es keine Wahrheit gibt, herrschen Beliebigkeit und Chaos. Beliebigkeit – denn es wird nicht mehr zwischen Wahrheit und Unwahrheit differenziert; alles ist gleich-gültig. Wo aber alles gleich-gültig ist, kann früher oder später auch nichts mehr überraschen. Überraschung lebt von der Ordnung, setzt sie geradezu voraus. Nur vor ihrem Hintergrund wird sie sichtbar und erlebbar.

Chaos – denn wo die Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit aufgehoben ist, verwischen alle Grenzen. Was zu Beginn noch aufregend und befreiend wirken mag, erscheint im Laufe der Zeit bald fade und langweilig, denn mit den Grenzen gehen sukzessive auch die Kontraste verloren und was am Ende übrig bleibt ist ein Bild, das unifarben ist.

Wahrheit – und Wahrheit anzuerkennen durch wahrhaftiges, das heißt wahrheitsgemäßes, Handeln – ist also nicht nur um ihrer selbst willen erstrebenswert – und das ist sie! Sie ist auch erstrebenswert, weil erst durch sie das Schöne in unserem Leben Raum gewinnt.

Wahrheit anzuerkennen geht dabei immer auch mit einem Verzicht einher: dem Verzicht darauf, seine eigene Freiheit im Widerspruch zur erkannten Wahrheit zu gebrauchen. Genau das meint der alte Begriff der Keuschheit. Bei Keuschheit – eng wie weit gefasst – geht es nicht um Vezicht um des Verzichts Willen, sondern um Verzicht um der Schönheit willen. Nur so wird sie verständlich und, mehr als das, attraktiv.

Sinn

Menschen fragen nach Sinn, sie suchen und sehnen sich nach Sinn. Ein „Zeichen der Zeit“, an dem man diese Sehnsucht vielleicht ganz gut erkennen kann, ist das Engagement vieler Menschen in der Klimaschutzbewegung. Bei den wenigsten wird ihr Engagement allein vom Eigennutz motiviert sein. Die meisten werden überzeugt sein von der Notwendigkeit dieses Engagements. Dies impliziert aber auch, dass sie einen Sinn in ihrem Engagement sehen. Niemand wird sich für etwas engagieren, dass er als sinnlos ansieht. Ohne Sinn kein Engagement.

Insbesondere die Zivilgesellschaft lebt davon, dass Menschen Sinn erkennen, in dem, was sie tun, und tun, was sie als sinnvoll erkannt haben. Und auch die Demokratie lebt nicht so sehr davon, dass die Bürger in Wohlstand leben, sondern dass sie Sinn darin erkennen, sich für das Allgemeinwohl zu engagieren.

Allein der Markt kommt, zumindest so Adam Smith, ganz gut damit zurecht, wenn jeder einzelne nur seinem Eigeninteresse folgt. Sein Eigeninteresse zurückzustellen und sich für das Allgemeinwohl einzusetzen, weil man dies als sinnvoll erkannt hat, ist eine Form, wie sich der evangelische Rat der Armut ausdrücken kann: arm (wenn auch nur relativ) zu werden, um ganz (oder zumindest mehr) für andere da sein zu können.

Ein neuer Morgen

Es ist nicht alles schlecht, wie sich unser Land in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Es ist aber auch nicht alles gut. Es besteht Luft nach oben. Wenn wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln wollen, müssen wir nicht unsere großen Mythen aufgeben. Wir müssen aber ihre blinden Flecken beleuchten und die Lücken ausfüllen. Doch was hat das Ganze mit ganzheitlicher Ökologie zu tun? Nun, zu einer wirklich ganzheitlichen Ökologie gehört in jedem Fall auch eine „Ökologie des Herzens“.

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