Bindungsfähigkeit
Verbundenheit setzt Bindungsfähigkeit voraus; die Fähigkeit, „mit anderen Menschen in lang andauernde und emotional ausgeglichene Beziehungen zu treten“[1] https://medlexi.de/Bindungsf%C3%A4higkeit – und in einem erweiterten Sinn auch mit Orten sowie der Natur.
Bindung ist neben Autonomie eines jener menschlichen Grundbedürfnisse, die sich bereits in der frühen Kindheit zeigen – und deren Erfüllung in einem positiven Verhältnis zueinander steht, wobei die Priorität bei der Bindung liegt. Das heißt: Kinder, deren Bindungsbedürfnis befriedigt wird, sind auch in der Lage Autonomie zu entwickeln.
Die Bindungstypen
Bindungsverhalten ist Gegenstand der Bindungsforschung. Die Bindungsforschung unterscheidet bei Erwachsenen verschiedene Bindungstypen:
1. sicher-autonomer Bindungstyp
Personen mit einem sicher-autonomen Bindungstyp fällt es leicht, mit anderen Menschen in lang andauernde und ausgeglichene Beziehungen zu treten. Sie haben ein hohes Selbstwertgefühl, sind konfliktfähig, haben einen guten Zugang zu ihren Emotionen und genießen Nähe.
2. unsicher-distanzierter Bindungstyp
Personen mit einem unsicher-distanzierten Bindungstyp scheuen Nähe und Emotionen. Stattdessen betonen sie ihre Unabhängigkeit. Die Bedeutung von Bindungen wird von ihnen heruntergespielt.
3. unsicher-verstrickter Bindungstyp
Personen mit einem unsicher-verstrickten Bindungstyp haben Schwierigkeiten bei der Regulierung ihrer negativen Emotionen. Eigene Schuldgefühle treten neben Schuldzuweisungen gegenüber anderen. In Beziehungen neigen sie zu klammerndem Verhalten oder versuchen, über Sexualität Nähe herzustellen.[2]https://www.spektrum.de/news/bindungsangst-das-naehe-distanz-problem/1824823
4. unsicher-desorganisierter Bindungstyp
Personen mit diesem Bindungstyp haben kein eindeutig identifizierbares Bindungsverhalten. Im Hintergrund stehen häufig traumatische Erfahrungen.
Zusammenfassend kann man sagen: Personen mit sicher-autonomem Bindungstyp wollen nicht nur tiefe Bindungen aufbauen, sie können es auch und genießen es. Personen mit unsicher-distanziertem Bindungstyp sind hierzu weder in der Lage noch wünschen sie es. Personen mit unsicher-verstricktem Bindungstyp wollen zwar tiefe Bindungen aufbauen, sehen sich hierzu jedoch nicht in der Lage.
Nur Personen mit sicher-autonomem Bindungstyp verfügen über eine gut entwickelte Bindungsfähigkeit. Bindungsfähigkeit ist nicht nur Voraussetzung für stabile, sondern vor allem auch erfüllende Beziehungen. Personen mit unsicherer Bindung greifen darüber hinaus häufiger zu externen Mitteln der Stressbewältigung wie Alkohol, Zigaretten oder anderen Drogen und weisen eine geringere Empathie auf[3]Strüber, Dr. Nicole, Die erste Bindung – Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen, Klett-Cotta Stuttgart 2016, S. 152..
Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Bindungsfähigkeit
Bei Kindern werden folgende Bindungstypen unterschieden:
1. sicherer Bindungstyp
Kinder mit einem sicheren Bindungstyp haben die Erfahrung gemacht, dass liebevoll und feinfühlig auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird. Sie haben ein ausgewogenes Gleichgewicht von Bindung und Erkundung.
2. unsicher-vermeidender Bindungstyp
Kinder dieses Bindungstyps vermeiden Bindungsverhalten. Sie suchen nicht die Nähe ihrer Bezugsperson, da sie die Erfahrung der Zurückweisung gemacht haben. Sie geben sich betont unabhängig, jedoch nicht, weil sie es sind, sondern weil sie sich innerlich allein gelassen fühlen. In der Forschungsliteratur wird dieser Bindungstyp als „typisch deutsch“ eingestuft.[4]Ebd., S. 122. Im Hintergrund dessen stehen die Erziehungsratgeber der Nationalsozialistin Johanna Harrer, die sich noch bis weit in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts großer Popularität erfreuten und durch eine betont strenge Erziehung auf frühe Selbstständigkeit abzielten. Insofern Selbstständigkeit eine sichere Bindung voraussetzt, erwecken diese Kinder zwar den Eindruck größerer Selbstständigkeit, ohne jedoch über diese tatsächlich zu verfügen.
3. unsicher-ambivalenter Bindungstyp
Kinder dieses Bindungstyps verhalten sich oft gleichzeitig klammernd und aggressiv. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sich ihre Bezugsperson unvorhersehbar verhält – einmal feinfühlig auf ihre Bedürfnisse eingehend, dann wieder zurückweisend und ablehnend. Sie versuchen, sich dem Verhalten der Bezugsperson anzupassen.
4. unsicher-desorganisierter Bindungstyp
Kinder dieses Bindungstyps haben kein eindeutig identifizierbares Bindungsverhalten entwickeln können. Sie sind verwirrt in Bezug auf das Verhalten ihrer Bezugsperson und können dieses nicht einschätzen. Häufig tritt dieser Typ bei Vernachlässigung oder Misshandlung auf.
Die Neurobiologin Dr. Nicole Strüber hält in ihrem Buch „Die erste Bindung – Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen“ fest:
„Sicher gebundene Kleinkinder verhalten sich auch im Kindergarten- und Schulalter in sozialen Situationen besonders angemessen, sie sind offen und aufgeschlossen. Sie sind kooperationsbereit, wissbegierig, haben mehr Phantasie, eine längere Aufmerksamkeitsspanne und ein höheres Selbstwertgefühl, ein ausgeprägteres Mitgefühl und eine höhere Frustrationstoleranz als unsicher gebundene Kinder. Eine unsichere Bindung hingegen wurde mit einem größeren Risiko für emotionale Schwierigkeiten und Verhaltensprobleme im Umgang mit Gleichaltrigen sowie mit Angststörungen in Verbindung gebracht.“[5]Ebd.

An späterer Stelle heißt es:
„Es zeigte sich, dass die Kinder, die in den ersten ein bis anderthalb Jahren eine sichere Bindungsbeziehung entwickelt hatten, im Vorschul- und Schulalter sehr selbständig und eigenverantwortlich waren. Die unsicher gebundenen Kinder hingegen verließen sich viel mehr auf die Unterstützung und Hilfe durch die Erzieher oder die Lehrer. Dies betraf auch diejenigen unsicher-vemeidend gebundenen Kinder, die in der Testsituation zur Erhebung der Bindungsklassifikation besonders unabhängig schienen – auch sie waren im Vorschul- und Schulalter unselbstständiger und weniger eigenverantwortlich als die sicher gebundenen Kinder.
Die sicher gebundenen Kinder waren zudem besonders gut darin, ihre Emotionen zu regulieren. Sie waren gegenüber den unsicher-gebundenen Kindern weniger ängstlich, konnten sich im Angesicht von Stress schneller beruhigen, waren neugieriger und wissbegieriger und hatten ein höheres Selbstwertgefühl…
Kinder mit einer sicheren frühen Bindungsbeziehung waren empahischer, hatten tiefere, auf Gegenseitigkeit beruhende Freundschaften und waren überall beliebt. Von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter attestierten ihnen alle, ihre gleichaltrigen Freunde ebenso wie ihre Lehrer, eine besonders hohe soziale Kompetenz.“[6]Ebd., S. 174f
Studien haben ergeben, dass in 70 bis 80 % der Fälle der Bindungstyp im Erwachsenenalter dem im Kindesalter ermittelten Bindungstyp entspricht.[7]Ebd., S. 143. Hieraus wurde geschlossen, dass der Bindungstyp zwar nicht prinzipiell unveränderlich, jedoch insgesamt relativ stabil ist.
Mehr noch: Inzwischen gilt als gesichert, dass der Bindungsytp häufig von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das in der Herkunftsfamilie erlernte Bindungsverhalten wird an die eigenen Kinder weitergegeben.[8]Ebd., S. 125.
Die frühe Kindheit (unter 3 Jahren) ist eine sensible Phase für den Erwerb von Bindungsfähigkeit. Optimalerweise wird Bindungsfähigkeit in diesem Alter erworben. In dieser Zeit entwickelte Defizite können zwar unter Umständen durch positive Erfahrungen zu einem späteren Zeitpunkt wieder ausgeglichen werden, wie die Neurobiologin Dr. Strüber deutlich macht, gehen die emotionalen Prägungen in diesem Zeitfenster jedoch besonders tief und sind entsprechend hartnäckig.[9]Ebd., S. 58.
Strübers Fazit:
„Kurzum, erfahren Kinder eine feinfühlige Betreuung und eine sichere Bindung, dann haben sie ein sicheres Fundament für eine gesunde und glückliche psychische Entwicklung und die Fähigkeit, im späteren Leben selbst liebevoll und fürsorglich Kinder aufzuziehen.“[10]Ebd., S. 179.
References[+]
↑1 | https://medlexi.de/Bindungsf%C3%A4higkeit |
---|---|
↑2 | https://www.spektrum.de/news/bindungsangst-das-naehe-distanz-problem/1824823 |
↑3 | Strüber, Dr. Nicole, Die erste Bindung – Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen, Klett-Cotta Stuttgart 2016, S. 152. |
↑4 | Ebd., S. 122. |
↑5 | Ebd. |
↑6 | Ebd., S. 174f |
↑7 | Ebd., S. 143. |
↑8 | Ebd., S. 125. |
↑9 | Ebd., S. 58. |
↑10 | Ebd., S. 179. |