Heimatverbundenheit

Eine Form von Verbundenheit, die in unserer Zeit – wie wir sehen werden – auf vielfältige Weise bedroht ist, ist die Heimatverbundenheit.

Wie Papst Benedikt XVI. in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag bemerkte, ist der Mensch kein reiner Geist. Wie Papst Franziskus in „Laudato si“ anmerkte, stellt unser Körper uns in eine direkte Beziehung zu der Umwelt und den anderen Lebewesen.[1]Vgl. Laudato si Nr. 155.

Über unseren Körper sind wir verbunden mit einer spezifischen Zeit und einem spezifischen Raum. Das hat sowohl eine objektive wie auch eine subjektive Dimension.

Objektiv prägen uns der spezifische Raum und die spezifische Zeit in der wir leben – ob uns das bewusst ist, ob wir es wollen, ob wir das Wie verstehen oder nicht.

Subjektiv sind dieser spezifische Raum und diese spezifische Zeit für uns mit Signifikanz, mit Bedeutung aufgeladen – wiederum unabhängig davon, ob wir uns dessen bewusst sind, es wollen oder den Inhalt dieser Bedeutung verstehen oder nicht.

Dass wir mit einer spezifischen Zeit und einem spezifischen Raum (auf diese Weise) verbunden sind, ist gut – denn anders könnten wir als Menschen, das heißt als Wesen, die leiblich, die körperlich sind, gar nicht existieren.

Diese spezifische Zeit und dieser spezifische Raum bilden unsere Heimat. Und so kann man sagen: Es ist gut, eine Heimat zu haben. Es gehört zum Menschsein, eine Heimat zu haben. Heimatverlust ist darum ein Übel und mit Leiden verbunden. Heimatverbundenheit ist demgegenüber ein Gut, das es zu achten, zu pflegen und zu schützen gilt.

Wurzeln und Entwurzelung

Papst Franziskus verwendet in seinen Schriften nicht die Begriffe Heimat und Heimatverlust. Er spricht jedoch an vielen Stellen davon unter den Begriffen Wurzeln und Entwurzelung; so wenn er erklärt:

„Man vergisst, dass »es keine schlimmere Entfremdung gibt als erfahren zu müssen, keine Wurzeln zu haben und zu niemanden zu gehören“[2]Fratelli tutti Nr. 53.

Er beklagt daher das Los jener, die als Emigranten ihre Heimat verlassen müssen und dadurch eine – oft auch kulturelle und religiöse – Entwurzelung erleben, und erinnert daran, dass auch die Gemeinschaften, die sie zurücklassen, einen Verlust erleiden und zu den Leidtragenden zu zählen sind.[3]Christus vivit Nr. 93; zitiert auch in Fratelli tutti Nr. 38: „Junge Menschen, die emigrieren, erleben die Trennung von ihrem ursprünglichen Umfeld und oft auch eine kulturelle und religiöse … Continue reading

Zustimmend zitiert Papst Franziskus deshalb in seiner Sozialenzyklika Fratelli tutti seinen Vorgänger Papst Benedikt XVI., dass „das Recht nicht auszuwandern – das heißt, in der Lage zu sein, im eigenen Land zu bleiben – bekräftigt werden“ muss.[4]Fratelli tutti Nr. 38.

Heimatverbundenheit

In der heutigen Zeit sieht Papst Franziskus das Leiden des Heimatverlusts bzw. der Entwurzelung aber nicht nur bei jenen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Das herrschende Wirtschaftssystem sorge vielmehr dafür, dass selbst jene Menschen, die rein äußerlich in ihrer Heimat bleiben können, eine Art Heimatverlust erleben. So erklärt er beispielsweise im Abschnitt über die Kulturökologie[5]ergänzt am 06.02.2023 in „Laudato si“ (und zitiert dies später selbst in „Querida Amazonia“):

„Die konsumistische Sicht des Menschen, die durch das Räderwerk der aktuellen globalisierten Wirtschaft angetrieben wird, neigt dazu, die Kulturen gleichförmig zu machen und die große kulturelle Vielfalt, die einen Schatz für die Menschheit darstellt, zu schwächen.“[6] Laudato si Nr. 144, zitiert in Querida Amazonia Nr. 33.

Dabei gilt doch:

„Neben dem natürlichen Erbe gibt es ein historisches, künstlerisches und kulturelles Erbe, das gleichfalls bedroht ist. Es ist Teil der gemeinsamen Identität eines Ortes und Grundlage für den Aufbau einer bewohnbaren Stadt.“[7]Laudato si Nr. 143; ergänzt am 06.02.2023

Noch schärfer formuliert er in „Christus vivit“:

„Heute erleben wir eine Tendenz zur „Homogenisierung“ der jungen Menschen, welche die ihrem Herkunftsort eigenen Unterschiede auflösen und sie in manipulierbare serienmäßig hergestellte Individuen verwandeln will. So entsteht eine kulturelle Zerstörung, die so schwerwiegend ist wie das Aussterben der Tier- und Pflanzenarten.“[8]Christus vivit Nr. 186.

Dies geht zweifellos Hand in Hand mit der Zerstörung landschaftlicher Vielfalt durch Monokulturen.[9]vgl. Laudato si 30 und 41

Schließlich warnt er aber auch in „Fratelli tutti“ vor einer falschen Offenheit für das Universale jener, „die nicht in der Lage sind, ihr eigenes Heimatland wirklich zu verstehen, oder…einen nicht überwundenen Groll gegen ihr eigenes Volk hegen.“[10]Fratelli tutti Nr. 145.

Dem stellt er folgende Haltung, fast wie eine Norm, gegenüber:

„Jeder liebt sein Land, verspürt eine besondere Verantwortung diesem gegenüber und kümmert sich darum, so wie jeder sein Zuhause lieben und pflegen muss, damit es nicht zusammenbricht, denn die Nachbarn werden das nicht tun. Das Wohl der Welt erfordert ebenfalls, dass jeder sein eigenes Land schützt und liebt.“[11]Fratelli tutti Nr. 143.

Dabei ist das Vorhandensein von Wurzeln nicht nur Voraussetzung dafür, dass man sein eigenes Land liebt und schützt. Vielmehr zeigt sich – gerade auch deshalb – die Liebe zu seinem Land und besteht dessen Schutz wesentlich in der Pflege seiner Wurzeln.[12]Fratelli tutti Nr. 53: „Ein Land wird nur in dem Maß fruchtbar sein, ein Volk wird nur in dem Maß Früchte tragen und Zukunft schaffen können, wie es Beziehungen der Zusammengehörigkeit … Continue reading

Doch auch das Gegenteil gilt:

„Für die Bewohner von sehr problematischen Wohnquartieren kann der tägliche Gang vom Gedränge zur sozialen Anonymität, den man in den großen Städten erfährt, ein Gefühl der Entwurzelung hervorrufen, das asoziale und gewaltbereite Verhaltensweisen fördert.“[13]Laudato si Nr. 149; ergänzt am 06.02.2023

Daraus leitet sich dann die Forderung ab:

„Wenn sich an einem bestimmten Ort schon chaotische Ansammlungen von baufälligen Häusern gebildet haben, geht es vor allem darum, diese Quartiere zu urbanisieren und nicht ihre Bewohner zu entwurzeln und zu vertreiben.“[14]Laudato si Nr. 152; ergänzt am 06.02.2023

Offenheit für das Universale

Wo es eine falsche Offenheit für das Universale gibt, muss es andererseits aber natürlich auch eine wahre Offenheit für das Universale geben.[15]Fratelli tutti Nr. 146: „Man kann jedoch nicht auf gesunde Weise lokal denken ohne eine aufrichtige und von Herzen kommende Offenheit für das Universale, ohne sich von dem, was anderswo geschieht, … Continue reading Diese steht aber nicht im Widerspruch zu echter Heimatverbundenheit, sondern wurzelt im Gegenteil in dieser.[16]Fratelli tutti Nr. 143: „Eine Offenheit, die ihr Wertvollstes preisgibt, ist nicht die Lösung. So wie es ohne persönliche Identität keinen Dialog mit anderen gibt, so gibt es auch keine … Continue reading

Heimatverbundenheit

Ja, genau betrachtet besteht sogar ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Heimatverbundenheit und Weltoffenheit, denn „die eigene kulturelle Identität wurzelt im Dialog mit denen, die anders sind, und wird durch ihn bereichert. Echte Bewahrung ist keine verarmende Isolation“.[17]Querida Amazonia Nr. 33, zitiert in Fratelli tutti Nr. 148.

Daher gilt:

„Auf jeden Fall müssen wir »immer den Blick weiten, um ein größeres Gut zu erkennen, das uns allen Nutzen bringt. Das darf allerdings nicht den Charakter einer Flucht oder einer Entwurzelung haben. Es ist notwendig, die Wurzeln in den fruchtbaren Boden zu senken und in die Geschichte des eigenen Ortes, die ein Geschenk Gottes ist.“[18]Fratelli tutti Nr. 145.

Sowie:

„Um diese Dynamik menschlicher Verarmung zu vermeiden, muss man die Wurzeln lieben und pflegen, da sie ein »Bezugspunkt [sind], der uns erlaubt, zu wachsen und auf die neuen Herausforderungen zu antworten«“[19]Christus vivit Nr. 200, zitiert in Querida Amazonia Nr. 33.

Das Band zwischen den Generationen

Von besonderer Bedeutung ist hier auch das Band zwischen den Generationen. Nur folgerichtig ist daher diese Warnung:

»Wenn jemand euch ein Angebot macht und euch sagt, ihr braucht die Geschichte nicht zu beachten, den Erfahrungsschatz der Alten nicht zu beherzigen und ihr könnt all das missachten, was Vergangenheit ist, und sollt nur auf die Zukunft schauen, die er euch bietet, wäre dies nicht eine einfache Art, euch mit seinem Angebot anzuziehen, um euch nur das tun zu lassen, was er euch sagt? Dieser Jemand benötigt euch leer, entwurzelt, gegenüber allem misstrauisch, damit ihr nur seinen Versprechen vertraut und euch seinen Plänen unterwerft. So funktionieren die Ideologien verschiedener Couleur, die all das zerstören – oder abbauen –, was anders ist; auf diese Weise können sie ohne Widerstände herrschen. Zu diesem Zweck brauchen sie junge Menschen, die die Geschichte verachten, die den geistlichen und menschlichen Reichtum ablehnen, der über die Generationen weitergegeben wurde, und die all das nicht kennen, was ihnen vorausgegangen ist«. [20]Christus vivit Nr. 181.

Kritisch bemerkt Papst Franziskus daher auch, dass die Isolierung der älteren Generation in Alten- und Pflegeheimen dazu führt, „dass den jungen Menschen der nötige Kontakt mit ihren Wurzeln und mit einer Weisheit, welche die Jugend von sich aus nicht erreichen kann, vorenthalten wird.“[21]Fratelli tutti Nr. 19.

Fazit: Wo Heimatverbundenheit bedroht ist

Heimatverbundenheit ist bedroht, Entwurzelung droht

  • durch Umstände, die zur Emigration zwingen
  • durch ein Weltwirtschaftssystem, das kulturell Homogenisierung bewirkt
  • durch Ideologien, die lehren, die Vergangenheit und Geschichte, das Alte und die Alten sowie Traditionen abzuwerten und zu verachten
  • durch die Anonymität und Verwahrlosung in großen Städten und kommunalen Antworten hierauf über die betroffenen Menschen hinweg
  • durch eine räumliche Segregation der älteren Generation in Alten- und Pflegeheimen (und der ganz Kleinen in Betreuungseinrichtungen)
  • durch fehlende Offenheit für den Kontakt mit anderen Kulturen

Dabei ist Heimatverbundenheit nicht nur wichtig für den einzelnen, sondern auch für sein Volk und Land und ist Voraussetzung für echte Weltoffenheit.

References

References
1 Vgl. Laudato si Nr. 155.
2 Fratelli tutti Nr. 53.
3 Christus vivit Nr. 93; zitiert auch in Fratelli tutti Nr. 38: „Junge Menschen, die emigrieren, erleben die Trennung von ihrem ursprünglichen Umfeld und oft auch eine kulturelle und religiöse Entwurzelung. Der Bruch betrifft auch die Gemeinschaften am Herkunftsort, die ihre stärksten Mitglieder mit der größten Eigeninitiative verlieren, sowie die Familien, insbesondere wenn ein oder beide Elternteile emigrieren und ihre Kinder in ihrem Herkunftsland zurücklassen.“
4 Fratelli tutti Nr. 38.
5 ergänzt am 06.02.2023
6 Laudato si Nr. 144, zitiert in Querida Amazonia Nr. 33.
7 Laudato si Nr. 143; ergänzt am 06.02.2023
8 Christus vivit Nr. 186.
9 vgl. Laudato si 30 und 41
10 Fratelli tutti Nr. 145.
11 Fratelli tutti Nr. 143.
12 Fratelli tutti Nr. 53: „Ein Land wird nur in dem Maß fruchtbar sein, ein Volk wird nur in dem Maß Früchte tragen und Zukunft schaffen können, wie es Beziehungen der Zusammengehörigkeit unter seinen Mitgliedern hervorbringt und Bindungen zur Integration unter den Generationen und seinen verschiedenen Gemeinschaften schafft; und wie es die Spiralen durchbricht, welche die Sinne trüben und so uns immer mehr voneinander entfernen
13 Laudato si Nr. 149; ergänzt am 06.02.2023
14 Laudato si Nr. 152; ergänzt am 06.02.2023
15 Fratelli tutti Nr. 146: „Man kann jedoch nicht auf gesunde Weise lokal denken ohne eine aufrichtige und von Herzen kommende Offenheit für das Universale, ohne sich von dem, was anderswo geschieht, hinterfragen zu lassen, ohne sich von anderen Kulturen bereichern zu lassen oder sich mit den Nöten anderer Völker zu solidarisieren. Ein solch unguter Lokalpatriotismus ist zwanghaft auf einige wenige Ideen, Bräuche und Gewissheiten beschränkt. Er ist unfähig, die vielen Möglichkeiten und all das Schöne überall auf der Welt zu sehen, und es fehlt ihm an authentischer und großzügiger Solidarität. In dieser Form ist heimatverbundenes Leben nicht mehr empfänglich, es lässt sich von anderen nicht mehr ergänzen und schränkt sich so in seinen Entwicklungsmöglichkeiten ein, wird unbeweglich und krank. Denn in Wirklichkeit ist jede gesunde Kultur von Natur aus offen und einladend, ja, man kann sagen, dass »eine Kultur ohne universale Werte keine echte Kultur ist«“
16 Fratelli tutti Nr. 143: „Eine Offenheit, die ihr Wertvollstes preisgibt, ist nicht die Lösung. So wie es ohne persönliche Identität keinen Dialog mit anderen gibt, so gibt es auch keine Offenheit zwischen den Völkern ohne die Liebe zum eigenen Land und seinen Menschen sowie zu ihren jeweiligen kulturellen Eigenheiten. Ich begegne dem anderen nicht, wenn ich keinen Nährboden habe, in dem ich fest verwurzelt bin, denn auf dieser Grundlage kann ich das Geschenk des anderen annehmen und ihm etwas Authentisches anbieten. Man kann die anderen nur dann annehmen und ihren spezifischen Beitrag anerkennen, wenn man selbst fest mit dem eigenen Volk und seiner Kultur verbunden ist.“ und Fratelli tutti Nr. 148: „Tatsächlich steht eine gesunde Offenheit nie im Gegensatz zur eigenen Identität. Eine lebendige Kultur, die sich um neue Elemente fremder Herkunft bereichert, wird diese nie einfach nur kopieren oder wiederholen, sondern sie wird sich das Neue auf ihre Art und Weise zu eigen machen. Dies führt zur Entstehung einer neuen Synthese, die letztlich allen zugutekommt, da die Kultur, in der diese Beiträge ihren Ursprung haben, selbst davon profitiert.“
17 Querida Amazonia Nr. 33, zitiert in Fratelli tutti Nr. 148.
18 Fratelli tutti Nr. 145.
19 Christus vivit Nr. 200, zitiert in Querida Amazonia Nr. 33.
20 Christus vivit Nr. 181.
21 Fratelli tutti Nr. 19.