Eine Philosophie der Verbundenheit
Papst Franziskus ist als scharfer Kritiker dessen bekannt, was er als „technokratisches Paradigma“ bezeichnet. An anderer Stelle wurde dieses Paradigma hier bereits kritisiert und in Verbindung gebracht mit einer Logik, die auf das Recht des Stärkeren und eine Herrschaft der Gewalt hinausläuft.
Was bislang fehlt, ist die Formulierung einer positiven Alternative. Dies soll im Folgenden ausgehend von einem der Zentralthemen von Laudato si unternommen werden.
Dieses Zentralthema findet sich in Laudato si 16 und lautet, „…dass in der Welt alles miteinander verbunden ist.“
Verbundenheit im Ursprung
Erklären lässt sich dieser Umstand nur damit, dass bereits an der Wurzel der Welt, in ihrem Ursprung Verbundenheit ist. Was lässt sich hiervon ausgehend über diesen Ursprung sagen? Nun, dass es in diesem Ursprung notwendig dreierlei geben muss: einmal eben die Verbundenheit, dann aber auch mindestens zwei, nennen wir es in Ermangelung besserer Alternativen, Größen, die voneinander verschieden und eben miteinander verbunden sind.
Die Verbundenheit setzt dabei einerseits logisch diese beiden Größen voraus, denn wo es nichts gibt, das prinzipiell miteinander verbunden sein kann, kann es auch keine Verbundenheit geben, weder aktuell noch potentiell.
Andererseits kann die Verbundenheit aber auch nicht sekundär gegenüber diesen Größen sein, ihnen sozusagen nachgeordnet und nachrangig. Denn dann wäre im Ursprung eben gerade nicht diese Verbundenheit, die diesem Ursprung ja erst nachträglich zukäme, sondern im Gegenteil die Dualität dieser beiden Größen.
Damit sich Verbundenheit wirklich im Ursprung selbst befindet, müssen diese beiden Größen und die Verbundenheit gleich ursprünglich sein.
Dieser Ursprung weist also eine trinitarische Struktur auf. Weder will noch kann das ein Beweis für den christlichen Offenbarungsglauben sein. Jedoch ist diese formale Bestimmung des Ursprungs zweifellos offen für eine materielle Füllung mit den Inhalten der christlichen Offenbarung.
Verbundenheit in der Welt
Doch auch wenn „in der Welt alles miteinander verbunden ist“, so lässt sich doch nicht bestreiten, dass diese Verbundenheit alles andere als heil und unversehrt ist.
Das soziale Leben ist angefüllt mit Brüchen und Zerrissenheit, wie gerade der Krieg in der Ukraine uns allen täglich aufs Neue vor Augen führt. Aber auch im Kleinen gibt es Scheidung, Freundschaften, die zerbrechen, Missverständnisse und Streit, ganz abgesehen von den vielen Formen der Kriminalität.
Diese Zerrissenheit, die, wenn wir genau hinschauen, mitten durch jeden einzelnen von uns hindurch geht, greift inzwischen auch massiv über auf unsere nicht-menschliche Umwelt, wie die vielfältige, menschenverursachte ökologische Krise zeigt.
So real und allgegenwärtig diese Zerrissenheit ist, so setzt sie doch eine ursprüngliche Verbundenheit voraus. Ja, wäre diese Zerrissenheit das ursprüngliche und eigentliche und nicht die Verbundenheit, ließe sich das außergewöhnlich hohe Maß an Verbundenheit, dem wir nichtsdestotrotz auf Schritt und Tritt begegnen, nicht erklären.
Zugleich ist diese Zerrissenheit aber eine überpersönliche Realität, die nicht einem einzelnen persönlich zurechenbar ist. Jeder von uns findet sich immer schon in ihr vor. Die christliche Theologie verwendet hierfür seit Augustinus den, etwas irreführenden, Begriff Erbsünde.
Diese Zerrissenheit bedarf der Heilung, der Versöhnung. Die verschiedenen biblischen Bundesschlüsse Gottes mit Menschen – Noah, Abraham, Mose und schließlich der Neue Bund in Jesus Christus – sind nach christlichem Glauben nichts anderes als Initiativen Gottes zur Wiederherstellung der ursprünglichen und durch einen Sündenfall verloren gegangenen Ver-bund-enheit.[1]Eine zentrale Bedeutung nimmt hier natürlich Jesus Christus ein. In der Inkarnation verbindet sich Gott unauflöslich mit der menschlichen Natur. In der Passion geht diese neue Verbundenheit so … Continue reading
Wenn nun aber im Ursprung der Welt Verbundenheit ist, dann gilt es, auch im sozialen, politischen und ökonomischen Leben Verbundenheit zu verwirklichen. Dann muss Verbundenheit gefördert werden: zwischen Mensch und Natur, zwischen Völkern und Kulturen, zwischen den verschiedenen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen einzelnen Personen, ja auch im Verhältnis einer Person zu sich selbst.
Die Grundlage hierfür ist der Aufbau von Bindungsfähigkeit, die Fähigkeit, Bindungen einzugehen – ein Vermögen, für welches das Fundament bereits in der frühen Kindheit gelegt wird.
Das technokratische Paradigma läuft ethisch auf das Recht des Stärkeren und politisch auf die Herrschaft der Gewalt hinaus. Erkenntnistheoretisch ist es mit einer objektivierenden Epistemologie verbunden, die positivistische Züge trägt. Was hat dem eine Position entgegenzusetzen, die von einer ursprünglichen und wiederherzustellenden Verbundenheit ausgeht?
Eine Ethik der Verbundenheit
Verbundenheit entsteht nur da, wo jemand den ersten Schritt macht, sich einem anderen öffnet und die Verbindung zu ihm sucht – und dies nicht, um dadurch primär etwas für sich selbst zu bekommen, sondern zum Wohl des anderen und zum gemeinsamen Wohl. Andernfalls kommt es nicht zu echter Verbundenheit, sondern lediglich – und im besten Fall – zu einer rein äußerlichen Transaktion von Gütern, schlimmstenfalls zu einer Form von Ausbeutung.
Verbundenheit setzt also einen Akt der Liebe voraus und die Ethik, die Verbundenheit fördert, ist daher eine Liebes-Ethik. So erklärt sich Jesu Christi Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Es ist kein Zufall, dass Inkarnation und Passion genau solche Akte der Liebe waren.
Eine Ethik der Rechte und/oder Pflichten dient dagegen primär der Abgrenzung. Rechte dienen dem Schutz vor Über- und Eingriffen anderer. Pflichten sind lediglich invertierte Rechte. Eine solche Ethik setzt Individualismus voraus und zementiert ihn so.
Eine Politik der Verbundenheit
Verbundenheit und Hass
Was bedeutet das Ganze in politischer Hinsicht? Nun, zunächst eine Absage an jede Ideologie, die durch das Propagieren von Rassen-, Klassen- oder Geschlechterhass Spaltung sät.
Wie Papst Benedikt XVI. in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2007 deutlich machte, stehen alle Ideologien, die Hass schüren, im Widerspruch zu unserem Ursprung. Dies gilt also beispielsweise für Rassismus, Klassismus und Ableismus.
Aber auch Ideologien, die auf einem Individualismus basieren, der die ursprüngliche Verbundenheit aller und von allem negiert sowie Beziehungen als sekundär und rein äußerlich betrachtet, ist nicht in der Lage, die Verbundenheit zu fördern; ja eher ist anzunehmen, dass ihre Prämissen in Konsequenz zu einer weiteren Schwächung und Schädigung der Verbundenheit führen; sie also kontraproduktiv sind, insofern sie zwar nicht Hass schüren, aber zur Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen und zum Rückzug auf sich selbst erziehen.
Verbundenheit und Gewalt
Grundsätzlicher gedacht untergräbt jede Form von Gewalt und Zwang – und seien es Manipulation oder Konformitätsdruck – jegliche Bemühungen um Verbundenheit, insofern sie bei ihren Opfern Widerstand oder (zumindest emotionalen) Rückzug hervorrufen.
Demgegenüber ist das Ideal ein möglichst umfassender Konsens.
Dieses Ziel wird aber nicht immer und überall realisiert werden können. Zu groß sind manchmal die Unterschiede in der Perspektive, um einen echten Konsens herstellen zu können.
Man denke nur an die unterschiedlichen Perspektiven von Erwachsenen und Kindern. Manchmal verlangen aber auch Notsituationen ein schnelles Entscheiden und Handeln, das unvereinbar ist mit einer bisweilen langwierigen Konsensfindung.
Eine Konsequenz hieraus kann sein, dass ein besonderer Wert auf das Prinzip der Subsidiarität gelegt wird, insofern Konsensfindung umso leichter fallen dürfte, je homogener der Erfahrungshorziont ist. Kleinere Gemeinschaften können vielleicht eher einen Konsens erzielen als große, komplexe.
Was bleibt aber nun in Situationen, in denen Konsensfindung nicht oder nur zu einem nicht tolerierbaren Preis möglich ist, während Gewalt und Zwang im Widerspruch zu echter Verbundenheit stehen?
Die Antwort lautet: Vertrauen.
Jene, die eine Entscheidung befolgen sollen, müssen Vertrauen haben (können) in die fachliche Expertise jener, welche die Entscheidung treffen, fast mehr aber noch in deren tugendhaften Charakter, der sie veranlasst, mit ihren Entscheidungen das umfassende Wohl aller von diesen Entscheidungen direkt oder indirekt Betroffenen zu verfolgen.
Jene wiederum, die Entscheidungen treffen, müssen darauf vertrauen (können), dass jene, die ihre Entscheidungen befolgen sollen, dies auch ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt und Zwang tun werden.
Vertrauen setzt eine starke, auch strapazierfähige Beziehung voraus – und eine solche entsteht nicht über Nacht, sondern braucht Zeit, um zu wachsen, zu reifen, sich zu bewähren.
Die Autorität derer, die dann entscheiden werden, gründet in ihrer fachlichen Expertise und ihrer charakterlichen Güte – letzteres ohne ersteres ist Inkompetenz, ersteres ohne letzteres ist bösartig.
Mit ihrem Vertrauen, das sich in ihrem freiwilligen (!) Gehorsam, das heißt im freiwilligen (!) Befolgen der Entscheidungen zeigt, anerkennen die anderen diese Autorität. Es ist dieses Anerkennen von Autorität, das ihr Legitimität verleiht und die weder durch offene Gewalt noch durch Manipulation oder Konformitätsdruck erzwungen werden kann.
Während der Konsens die Gleichheit aller voraussetzt, ist beim Vertrauen eine Hierarchie zwischen jenen, die entscheiden, und jenen, die gehorchen, impliziert. Diese Hierarchie wird jedoch wesentlich flacher und auch fluider ausfallen, wo sie allein auf wechselseitigem Vertrauen basiert, als dort, wo sie (zumindest auch) durch Gewalt und Zwang abgestützt wird.
In einem engeren Sinne können Gewalt und Zwang zwar ethisch zulässig sein, wenn auf keine andere Weise eine akute Bedrohung für einen selbst abgewandt werden kann (Notwehr), oder sogar ethisch geboten sein für jene, die in der Lage sind, andere (nur) auf diese Weise in einer akuten Gefahrensituation vor einem Angreifer zu schützen – wobei hier das Spannende wäre, „akut“ und „Gefahrensituation“ konkret zu bestimmen.
Dennoch handelt es sich hierbei immer nur um eine Abwendung eines größeren Übels, nie um einen positiven, konstruktiven Beitrag zur Besserung der Situation. Das (politische) Handeln muss daher immer als ultimatives Ziel Frieden und Versöhnung, sprich: die Wiederherstellung von Verbundenheit, haben. In den Worten Jesu aus der Bergpredigt: die Frieden stiften, werden Söhne Gottes genannt werden (Mt. 5,9). So verstanden muss Politik immer Friedenspolitik sein.

Ausgehend von diesen Überlegungen kann man die verschiedenen Typen politischer Herrschaft mit der antiken griechischen Verfassungslehre in Verbindung bringen.
Ein konsensbasiertes Gemeinwesen wäre demnach eine Demokratie. Ein Gemeinwesen, in dem das Vertrauen in eine einzelne Person oder in mehrere Personen ausschlaggebend ist, wäre eine Monarchie bzw. Aristokratie. Ein Gemeinwesen, in dem Gewalt und Zwang herrschen, eine Tyrannis.[2]Bezogen auf die Kirchenverfassung ist das demokratische Element der sensus fidei fidelium, der Glaubenssinn der Gläubigen. Das monarchische Element findet sich im Papstamt, das aristokratische im … Continue reading
In letzterem Fall könnte man noch weiter ausdifferenzieren, ob es sich primär um physische Gewalt handelt (eine Tyrannis im engeren Sinne), ökonomische Zwangsmittel (eine Oligarchie) oder sozialen Konformitätsdruck (eine Ochlokratie).
Um eines klar zu stellen: In Reinform werden diese Typen niemals anzutreffen sein. Jedes real existierende Gemeinwesen wird immer irgendwo auch über demokratische, aristokratisch-monarchische sowie tyrannische Elemente verfügen. Und viel wichtiger als die relativ einfach zu beantwortende Frage, welche Verfassung de jure gilt, ist ohnehin die Frage, welche Verfassung de facto gilt.
Die große Herausforderung besteht dabei darin, die tyrannischen Elemente zu identifizieren und immer weiter zurückzudrängen, um immer mehr ein brüderliches Gemeinwesen zu verwirklichen, in dem gilt: fratelli tutti.
Dies wird nicht durch eine politische, soziale oder technologische Revolution geschehen, sondern allein durch eine spirituelle Revolution der Liebe; eine spirituelle Revolution der Liebe freilich, die sich in Übereinstimmung mit der Fleischwerdung des Logos in veränderten und auch in neuen Institutionen, Strukturen und Prozessen niederschlagen wird.
Es ist eine Revolution, die darin besteht, die Freiheit des anderen zu wollen, das Wagnis des Vertrauens einzugehen und die Mühsal auf sich zu nehmen, an den Beziehungen, in denen wir leben, zu arbeiten.
Verbundenheit und Konkurrenz
Ob Konkurrenzverhalten eine menschliche Konstante ist, ist eine spannende Frage, die hier nicht beantwortet werden soll oder kann. Wäre es dies nicht, so wäre zweifellos Kooperation förderlicher für Verbundenheit und sicher muss sie auch wo immer möglich gefördert werden.
Falls es aber eine Konstante ist, stellt sich die Frage, wie man konstruktiv mit ihm im Sinne einer Förderung von Verbundenheit umgehen kann. Eine mögliche Antwort auf diese Frage liefert Jesus Christus im Evangelium mit seiner Weisung: „Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein.“ (Mt. 20,26)
Das Streben, sich gegenüber anderen auszuzeichnen, wird hier nicht prinzipiell verurteilt. Stattdessen wird ihm eine sozialverträgliche, ja gemeinwohlfördernde Richtung gegeben.
Das Konkurrenzstreben wird hier – in logischer Konsequenz aus einer Ethik der Liebe heraus – ganz bewusst in den Dienst des Gemeinwohls gestellt. Dies geschieht aber nicht im individualistischen Sinne Adam Smiths, wonach das Verfolgen des jeweiligen Eigennutzes wie durch Zauberhand durch das Wirken des Marktes dem Wohle aller dient.
Man soll vielmehr die eigenen materiellen wie immateriellen Mittel in den Dienst der anderen und des Gemeinwohles stellen, nicht unähnlich dem trusteeship Mahatma Gandhis. Die Herausforderung bestünde nun darin, Strukturen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen, die ein solches Verhalten fördern und ein gemeinwohlschädliches Konkurrenzverhalten zunehmend unattraktiv machen.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich über eine Politik der Verbundenheit sagen:
- Hass – sei es als Grundlage, sei es als Ziel oder Mittel – ist immer unvereinbar mit einer authentischen Politik der Verbundenheit.
- Gewalt und Zwang kann – in Notwehr – ethisch zulässig oder – zum Schutz Angegriffener – sogar ethisch geboten sein. Eine Politik der Verbundenheit muss jedoch immer darauf zielen, Gewalt und Zwang in all ihren Formen soweit wie möglich zurückzudrängen und zu überwinden zu Gunsten konsens- und vertrauensbasierter Formen der Konfliktlösung und Entscheidungsfindung.
- Kooperation ist wo möglich zu fördern. Insofern Konkurrenz eine menschliche Konstante ist, gilt es, sie unmittelbar auf den Dienst am Gemeinwohl auszurichten und Strukturen in Politik und Wirtschaft zu schaffen, die das fördern.
Eine Epistemologie der Verbundenheit[3]Dieser Abschnitt verdankt viel Robert Barron, The Priority of Christ. Towards a postliberal Catholicism, Baker Academic, Grand Rapids USA 2021, S. 133 – 188.
Die bereits erwähnte spirituelle Revolution der Liebe wird auch Auswirkungen auf die Epistemologie haben.
In jedem Fall beinhaltet es eine Absage an die Fiktion des Forschers und Wissenschaftlers als eines neutralen, unbeteiligten Beobachters; nicht nur in den Kultur- und Geisteswissenschaften, in welchen diese Fiktion bereits weitgehend verschwunden ist, sondern auch in den Naturwissenschaften, in denen die neue Sicht bereits mit der Quantenphysik begonnen hat, Einzug zu halten.
Eine spirituelle Revolution der Liebe bedeutet aber darüber noch hinausgehend, auch in Wissenschaft und Forschung die Realität und Präsenz der Liebe anzuerkennen und ihr zu entsprechen: der Liebe zur Wahrheit, ohne die Wissenschaft und Forschung unmöglich ist und die, um wirklich authentisch und echt zu sein, ein Bemühen um umfassende Wahrhaftigkeit in allen Lebensbereichen impliziert.
Liebe zur Wahrheit impliziert dabei auch die Überzeugung, dass der Mensch – bei aller prinzipiellen Beschränkung – grundsätzlich wahrheitsfähig ist, dass er grundsätzlich fähig ist, wenn auch noch so beschränkt, Wahrheit zu erfassen und sprachlich auszudrücken.
Hierzu gehört, dass Sprache gerade deshalb eine Verbindung zur Welt herstellen kann, weil die Welt selbst durch Verbundenheit charakterisiert ist und die Sprache an dieser Verbundenheit andockt und partizipiert.
Aber auch die Liebe zum Forschungsgegenstand als grundlegende Motivation dafür, sich überhaupt den Mühen und Anstrengungen des Forschens zu unterziehen. Diese Liebe verlangt dabei eine bestimmte Qualität, um wirklich sie selbst zu sein.
Sie muss keusch sein, das heißt frei von einem Begehren, das im anderen – hier: dem Forschungsgegenstand – nicht den anderen als anderen sucht, sondern nur sich selbst in Gestalt seiner Bedürfnisse und Interessen, zu denen auch die Bestätigung der eigenen Vorurteile gehört.
Insofern dies immer nur ein Ideal bleiben wird, dem man sich lediglich annähern kann, erfordert das überdies beständige Bekehrung, ein beständiges, selbstreflektiertes Hinterfragen der eigenen Motive und Handlungsweisen und eine immer wieder neue Ausrichtung am Ideal dieser keuschen Liebe.
Aus all dem folgt ebenso eine Absage an das kartesianische, von sämtlichen Bindungen und Vorgaben losgelöste, Subjekt als das vorgeblich notwendige Fundament jeder Erkenntnis.
Als dieses Fundament muss vielmehr die Intersubjektivität anerkannt werden, wie sie Robert Barron in „The Priority of Christ“ dargelegt hat, also das Eingebettetsein des Forschers und Wissenschaftlers in eine konkrete Gemeinschaft und Tradition, seine Verbundenheit mit dieser konkreten Gemeinschaft und Tradition, die sein Forschen ebenso ermöglicht wie begrenzt.
Neben der Verbundenheit von Einzelnem und Gemeinschaft ist außerdem die Verbundenheit von Geist und Körper anzuerkennen. Erkenntnis ist immer durch den Körper vermittelt.
Ein leibloser Rationalismus, der danach trachtet, den Geist vom Körper zu trennen, um zu einer angeblich gewisseren Erkenntnis zu gelangen, genügt nicht einer Welt, in der alles miteinander verbunden ist.
Wiewohl Versuchsanordnungen unter Laborbedingungen ihre Berechtigung haben, so ist doch ebenso klar, dass sie eine Realität, in der alles miteinander verbunden ist, nur sehr unvollständig darstellen können.
Kaum kann diese spezifisch naturwissenschaftliche Methode daher als Maßstab für Wissenschaftlichkeit schlechthin herhalten, wie dies Vertreter eines philosophischen Materialismus bisweilen in offenkundigem Selbstwiderspruch beanspruchen.
Als Königsweg der Wissenschaftlichkeit muss stattdessen ein in Verbindung Treten angesehen werden.
Hierbei geht es nicht um eine Verschmelzung mit dem anderen oder einem Aufgehen in ihm wie in manchen rauschhaften Zuständen, insofern dies einer Auflösung der Differenz, der verschiedenen Identitäten, nahekommt und damit einer Negation von Verbundenheit gleichkäme, die immer Differenz logisch voraussetzt, wie bereits weiter oben gesehen.
Wie muss man sich Erkenntnis durch ein in Verbindung treten dann vorstellen?
Wohl am ehesten als Verstehen. Verstehen meint das intellektuelle Erfassen des Zusammenhanges, in dem ein Sachverhalt steht. Man könnte auch formulieren: Verstehen meint das intellektuelle Erfassen eines Sachverhaltes in seiner Verbundenheit – und das heißt eben so, wie er in der Realität ist, die ja eben eine Realität ist, in der alles miteinander verbunden ist.
Dies macht die Kunst des Verstehens, die Hermeneutik, zur paradigmatischen Wissenschaft, wie ja selbst auch die Ergebnisse von Versuchen unter Laborbedingungen für sich genommen zunächst einmal nichtssagend sind und erst selbst interpretiert werden müssen.
Wiewohl Interpretation als eine Methode der Hermeneutik auch einen unverzichtbaren Moment naturwissenschaftlichen Forschens darstellt, so ist ihre ureigenste Domäne doch die Interpretation von Texten.
Das macht Literaturwissenschaft im Allgemeinen sowie die Exegese heiliger Schriften im Besonderen zu einem regelrechten Propädeutikum jeglichen wissenschaftlichen Arbeitens. Ja, von hierher erhellt sich die Vorstellung von der Welt, von der Natur als einem Buch, das es zu lesen gilt, um es zu verstehen, um seinen tieferen Sinn zu erhellen.

Weit über das wissenschaftliche Arbeiten hinaus ist die Kunst des Verstehens – und damit jene Disziplinen, in denen man sie zuvörderst und am direktesten erwirbt – eine grundlegende Kulturtechnik, wie man auch an der Bedeutung des Verstehens für eine Politik der Verbundenheit erkennen kann.
Verstehen kann Hass überwinden, Gewalt entgegenwirken und Kooperation fördern; ja macht sie überhaupt erst möglich. Ohne Verstehen keine Verbundenheit. Gerade in Zeiten von Echokammern und Cancel Culture eine für den sozialen Zusammenhalt nicht unbedeutende Botschaft.
Verstehen setzt immer das Hören voraus, sei es das Hören auf einen Sprecher, einen Text oder auch auf Laborergebnisse. Das wiederum gelingt nicht, ohne zuvor selbst still zu werden, das heißt, sich selbst zurückzunehmen und dem anderen Raum zu geben.
Das allein ist schon ein Akt der Liebe und somit Ausdruck einer Liebes-Ethik, einer Ethik der Verbundenheit. Das zeigt zugleich, dass – wie schon die antiken griechischen Philosophen wussten – Erkenntnis nicht allein eine intellektuelle Angelegenheit ist, sondern eine umfassende Charakterbildung voraussetzt.
Darum ist auch das Erlernen der Hermeneutik – und dann davon abgeleitet auch jeder weiteren Wissenschaft – eine Schule der Liebe; wie übrigens auch das Gebet als ein Hören auf Gott.
Erst das Hören ermöglicht es, Fragen an den Sprecher – sei es tatsächlich eine Person, ein Text oder ein Sachverhalt – zu richten, so in einen Dialog mit dem – wie auch immer gearteten – Gegenüber einzutreten und auf diese Weise zu einem immer tieferen Verstehen, zu einer immer tieferen intellektuellen Verbundenheit, vorzustoßen.
Dieser Dialog erstreckt sich auf den Forschungsgegenstand, umfasst aber ebenso die eigene Tradition, in der man steht, sowie andere Traditionen, mit denen man in Kontakt kommt und die in der Lage sind, den erfassten Zusammenhang – und damit das eigene Verstehen – zu weiten.
Dies zeigt auch: Der Erkenntnisprozess ist immer Kommunikation und damit ein Prozess, der auf Communio, Verbundenheit zielt. Darum ist Erkenntnis, ist Kommunikation auch ein Weg, der zur Wiederherstellung der ursprünglichen Verbundenheit führt.[4]Darum lautet auch das Neuartige in der christlichen Überlieferung: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ (Joh. 1,14) Und in diesem Sinne kann man dann auch sagen: … Continue reading
Weiterführende Texte
References[+]
↑1 | Eine zentrale Bedeutung nimmt hier natürlich Jesus Christus ein. In der Inkarnation verbindet sich Gott unauflöslich mit der menschlichen Natur. In der Passion geht diese neue Verbundenheit so tief, dass sie selbst Sünde, Leid und Tod umfasst. Nirgendwo muss es seither mehr Zerrissenheit zwischen Gott und Mensch geben und in der Taufe kann jeder Mensch eintreten in diese fundamentale Verbundenheit zwischen Gott und Mensch, deren Brennpunkt Jesus Christus ist und die in der Beichte immer wieder erneuert werden kann, egal was auch passiert, während sie in der Eucharistie gestärkt wird. Das Evangelium ist die Botschaft, dass ausgehend von dieser inneren Heilung der Zerrissenheit zwischen Mensch und Gott sukzessive auch alle weiteren, abgeleiteten Zerrissenheiten geheilt werden können – und sollen. Die eschatologische Hoffnung der Christen ist, dass dies eines Tages auch tatsächlich in Fülle geschehen wird – bei der Wiederkunft Jesu Christi. Wieder: Das soll nicht heißen, dass der christliche Glaube wahr ist – wiewohl ich das uneingeschränkt bejahe – sondern lediglich, dass der christliche Glaube darauf antwortet, dass a) im Ursprung der Welt Verbundenheit ist, b) diese Verbundenheit, wie jeder von uns zweifelsfrei wahrnehmen kann, in der Welt selbst vielfach gestört ist und c) daher dringend der Heilung bedarf. Natürlich können prinzipiell auch andere Religionen und Philosophien hierauf eine Antwort bieten – was noch nicht bedeutet, dass diese auch wahr sein müssen, was ich wiederum verneine. Ob und inwieweit sie es tatsächlich tun, darüber wage ich hier keine Aussage zu treffen. |
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↑2 | Bezogen auf die Kirchenverfassung ist das demokratische Element der sensus fidei fidelium, der Glaubenssinn der Gläubigen. Das monarchische Element findet sich im Papstamt, das aristokratische im Bischofskollegium. Wichtig ist hierbei, dass das Vertrauen der Gläubigen in das monarchisch-aristokratische Lehramt nicht in der Expertise und charakterlichen Güte der Päpste und Bischöfe gründet, sondern in der Zusage Jesu Christi, dass die Mächte der Hölle seine Kirche nicht überwinden werden (Mt. 16,18) sowie in der Einsetzung der Apostel durch ihn. |
↑3 | Dieser Abschnitt verdankt viel Robert Barron, The Priority of Christ. Towards a postliberal Catholicism, Baker Academic, Grand Rapids USA 2021, S. 133 – 188. |
↑4 | Darum lautet auch das Neuartige in der christlichen Überlieferung: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ (Joh. 1,14) Und in diesem Sinne kann man dann auch sagen: Dies ist das ewige Leben: Den einzig wahren Gott zu verstehen und den, den er gesandt hat, Jesus Christus. (vgl. Joh. 17.3) |