Was ist das Problem mit dem technokratischen Paradigma?
In „Laudato si“ hat Papst Franziskus mit seiner, einer päpstlichen Enzyklika eigenen, lehramtlichen Autorität das technokratische Paradigma in einen ursächlichen Zusammenhang mit den vielfältigen Umweltschädigungen – und weiteren Problemen – unserer Zeit gestellt.[1]https://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si.html , Nr. 101ff, 17.07.2022, 20:30 Uhr
Für all jene – Katholiken wie Nicht-Katholiken – die an dieser lehramtlichen Autorität ihre Zweifel haben, stellt sich aber die Frage, ob die Behauptung denn tatsächlich zutrifft, das technokratische Paradigma, das im Grunde nichts anderes ist als das moderne Wissenschaftsverständnis in der Tradition Descartes und Bacons, sei (so) problematisch.
Der vorliegende Beitrag will dieser Frage nachgehen und die Behauptung anhand ontologischer, anthropologischer und ethischer Gründe belegen. Begonnen werden soll hierbei mit den ethischen Gründen, da diese am deutlichsten auf der Hand liegen.
Die ethische Perspektive auf das technokratische Paradigma
In ethischer Hinsicht hat die im technokratischen Paradigma gegebene Abwertung bzw. Nichtbeachtung oder gar Leugnung der Formal- und Finalursachen schwerwiegende Konsequenzen. Um diese ansatzweise erahnen zu können bedarf es zunächst einmal der Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Herangehensweise.[2]zum Folgenden vgl. Feser, Edward, Scholastic Metaphysics: A contemporary Introduction, editiones scholasticae vol. 39, Heusenstamm 2014, S. 88ff.
Die Untersuchung der Wirkursachen entspricht dabei der extrinsischen Herangehensweise. Die Wirkursache ist eine von außen, deswegen extrinsisch, auf einen Akt X – oder mehrere Akte X, Y und Z – wirkende Kraft, die durch ihr Einwirken von außen das als Potens in dem Akt X bzw. den Akten X, Y und Z enthaltene W aktualisiert, das heißt verursacht.
Die Untersuchung von Wirkursachen behandelt also im Verhältnis zum Akt W externe Gegebenheiten, die also unabhängig von dem Akt W sind, durch deren Manipulation aber der Akt W erzeugt werden kann. Der Akt W wird also nicht in sich untersucht, sondern in seinem Abhängigkeitsverhältnis zu äußeren Faktoren und vor allem als Produkt dieser äußeren Faktoren. Die Frage nach der Wirkursache ist also die Frage: Wie entsteht W? Oder, je nach Kontext auch: Wie kann W erzeugt bzw. hergestellt werden?

Demgegenüber entspricht die Untersuchung der Formalursachen der intrinsischen Seite. Hier geht es darum zu verstehen, was ein Akt W in sich oder an und für sich ist. Es geht eben darum, sein inneres Prinzip zu verstehen und nicht wie er äußerlich entstanden ist oder was man aus ihm herstellen kann (das hieße, den Akt W als Wirkursache für, sagen wir, den Akt V zu untersuchen). Pointiert ausgedrückt: Es geht also nicht um die Frage, was man mit einem Akt W alles machen kann, sondern was W ausmacht. Was sind nun die Konsequenzen, wenn man diese Seite der Realität einfach ausblendet?
Etwas intrinsisch zu betrachten heißt, wahrzunehmen, zu verstehen und schließlich auch wertzuschätzen, wie etwas in sich ist. Es öffnet die Augen für dessen Eigenwert. Das wiederum weckt Achtung, Respekt vor ihm. Wenn wir den Eigenwert von etwas erkannt haben, verändert das unseren Umgang mit ihm. Wir werden dann nicht mehr alles damit machen, was wir machen können, sondern nur das, was seinem Eigenwert entspricht. Manchmal kann das auch bedeuten, einfach gar nichts damit zu machen, sondern es einfach sein zu lassen. Kurzum: Wir können etwas als das würdigen, was es ist.
Wenn nun – wie im technokratischen Paradigma – die intrinsische Betrachtungsweise wegfällt, fällt damit auch diese Perspektive weg. Etwas wird dann nicht mehr in seinem Eigenwert gesehen, sondern nur noch in seiner Verwertbarkeit, in dem Nutzen, den man aus ihm ziehen kann. Es handelt sich also um eine rein instrumentelle Betrachtungsweise. Das so Betrachtete wird instrumentalisiert. Der Umgang damit ist dann nicht mehr von Achtung oder Respekt gekennzeichnet, sondern ausschließlich von Nutzenmaximierung. So wird beispielsweise die Natur oder Umwelt auf eine Ressource reduziert, die nur noch rücksichtslos ausgebeutet wird. Raubbau an der Natur ist die unmittelbare Folge.

Doch dabei bleibt es nicht stehen. Denn auch Natur- und Umweltschutz werden unter diesem Paradigma auf Ressourcenschonung reduziert. Ressourcen schonen klingt ökologisch, aber es bleibt derselben rein instrumentellen Sicht auf die Natur verhaftet, die den Eigenwert der Natur leugnet und die deshalb, selbst wenn sie es wollen würde, die Natur gar nicht mit Achtung und Respekt behandeln kann. Im Grunde geht es bei Ressourcenschonung ja nicht darum, die Ausbeutung der Natur zu stoppen, sondern lediglich darum, den Ertrag aus dieser Ausbeutung auf lange Sicht gesehen zu erhalten und so ultimaltiv zu steigern.
Das soll nicht bedeuten, dass der Gedanke der Ressourcenschonung per se falsch wäre. Er ist sicher ein wichtiger Beitrag zur Überwindung der ökologischen Krise. Doch bleibt er für sich allein genommen dem technokratischen Paradigma verhaftet und ist gerade darum nicht in der Lage, dieses zu überwinden und damit die ökologische Krise tatsächlich an ihrer Wurzel zu packen. Hierfür braucht es einen Bruch mit dem technokratischen Paradigma und das verlangt die Wiederentdeckung der Formalursachen als wissenschaftlich und ethisch, als theoretisch und praktisch relevant und über die Wiederentdeckung der Formalursachen eine Wiederentdeckung des Eigenwerts der belebten wie unbelebten Umwelt, um dieser wieder mit Achtung und Respekt begegnen zu können – nicht nur seitens einzelner Naturliebhaber und Aktivisten, sondern im größeren wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Diskurs.
Bisher wurde eine eher vordergründige Frage behandelt, nämlich was die Konsequenzen sind, wenn man die Formalursachen ausblendet – sei es, indem man sie für irrelevant erklärt, sei es, indem man sie leugnet. Eine grundlegendere Frage lautet jedoch, weshalb man die Formalursachen überhaupt ausblenden sollte.
Die einfachste Antwort, die Verfechter des technokratischen Paradigmas hierauf geben können, wäre schlicht zu sagen, dass sie eben nicht-existent sind und was nicht existiert muss logischerweise auch nicht näher berücksichtigt werden. Weshalb diese Antwort intellektuell nicht zu überzeugen vermag, muss an anderer Stelle ausgeführt werden. Doch bliebe selbst dann folgender Einwand der Verfechter des technokratischen Paradigmas, den bereits Roger Bacon vorbrachte: Die Beschäftigung mit Formalursachen zeitigt schlicht keine relevanten Ergebnisse.
Nun ist, wie bereits gesehen, zumindest eines der Ergebnisse der Beschäftigung mit Formalursachen die Erkenntnis des Eigenwertes einer Sache. Zu sagen, dass der Eigenwert einer Sache irrelevant ist, bedeutet aber nichts anderes als zu sagen, dass unsere Erkenntnis ihres Eigenwertes nichts an unserem Umgang mit ihr ändern wird. Zu sagen, dass unsere Erkenntnis des Eigenwertes nichts an unserem Umgang mit der betreffenden Sache ändern wird, ist aber ipso facto zu leugnen, dass es überhaupt einen Eigenwert gibt, denn natürlich beinhaltet der Eigenwert einer Sache den ethischen Appell an andere, diesen Eigenwert anzuerkennen und zu achten und dies eben gerade auch im Umgang mit dieser Sache.
Das technokratische Paradigma führt also nicht nur ex post zur Unkenntnis des Eigenwertes der erforschten Gegenstände, es setzt bereits die Nicht-Existenz dieses Eigenwertes voraus und rechtfertigt sich selbst so.
Mit anderen Worten: Unter dem technokratischen Paradigma verfügt nichts, was erforschbar ist – und das schließt uns Menschen mit ein – über einen Eigenwert. Alles ist eine in sich wertlose und daher beliebig manipulierbare Masse. Der ethische Grundsatz des technokratischen Paradigmas lautet daher: Erlaubt ist, was möglich ist. Dies wiederum läuft auf das Recht des Stärkeren – denn dem Stärkeren ist mehr möglich und daher auch mehr erlaubt – und eine Herrschaft der Gewalt – denn natürlich ist es dem Stärkeren auch möglich und daher in dieser Logik erlaubt, seinen Willen anderen im Zweifel auch mit Gewalt aufzuzwingen – hinaus, wie sehr diese auch in der Praxis aus Gründen der Nützlichkeit bemäntelt sein mag. Die Ethik des technokratischen Paradigmas ist also eine Pseudo-Ethik, die auf die Zerstörung jeglicher Ethik hinausläuft. Ja in diesem Sinne kann man gar von einer Anti-Ethik sprechen.

Wie die Erforschung der Formalursachen unseren Sinn schärft für den Eigenwert der vielfältigen Bausteine unserer Realität, so hilft uns die Erforschung der Finalursachen dabei, zu erkennen, was ein diesem Eigenwert entsprechender Umgang von uns verlangt.
Die Finalursachen liefern uns eine Bewertungsgrundlage für unser Verhalten in Bezug auf die Umwelt, unsere Mitmenschen und sogar uns selbst. Wie wirkt sich unser Verhalten auf die verschiedenen belebten und unbelebten Dinge in unserer Umwelt aus? Fördert es ihre naturgemäße Entwicklung oder behindert es sie? Fördern wir, dass sie ihr jeweiliges telos erreichen oder sind wir bzw. unser Handeln im Gegenteil ein Faktor, der sie dabei behindert? Und falls ja: Gibt es Gründe hierfür? Sind diese Gründe gerechtfertigt und wenn nicht, was für Handlungsalternativen haben wir? Die Erforschung der Finalursachen vermag auf diese Weise einen wesentlichen Beitrag zu einer ökologischen Ethik zu leisten. Ohne die Finalursachen sind wir dagegen nicht einmal in der Lage diese Fragen auch nur zu formulieren, geschweige denn zu beantworten.
Die anthropologische Perspektive auf das technokratische Paradigma
Aus der entfalteten ethischen Perspektive ergeben sich die problematischen Konsequenzen des technokratischen Paradigmas in anthropologischer Hinsicht. Wie gesehen kann man die Vorstellung einer Menschenwürde (also des spezifischen Eigenwertes eines Menschen) – und noch dazu einer unantastbaren Menschenwürde – unter dem technokratischen Paradigma nicht aufrecht erhalten. Zugleich werden die aus der Menschenwürde abgeleiteten unveräußerlichen Menschenrechte zu reiner Konvention, die als solche nach Belieben abgeändert, ersetzt oder komplett abgeschafft werden können. Und noch mehr: Wenn tatsächlich wahr ist, dass erlaubt ist, was möglich ist, ist damit jeglichem zwischenmenschlichen Vertrauen die Basis entzogen und daraus folgt wie von selbst, dass jeder nach Macht über alle anderen strebt – zumindest um sich vor diesen zu schützen, eher aber noch um diesen seinen Willen aufzuzwingen.
Man ist damit also beim pessimistischen Menschenbild von Thomas Hobbes angelangt, in dem gilt: homo homini lupus; der „Naturzustand“ als Krieg aller gegen alle.
Die Menschen sind dann voneinander losgelöste Individuen, die nur zum jeweiligen Eigennutz paktieren – und dies auch nur so lange, wie es ihrem jeweiligen Eigennutz dient. Der Markt ist in diesem Falle dann nur die weniger offen gewalttätige Alternative zu Krieg oder der unumschränkten Diktatur eines einzelnen. Der Schritt hin zu einer Form des Sozialdarwinismus ist dabei nur noch kurz.
Die Reduzierung der Vernunft auf ihre instrumentelle Dimension schließt das Streben nach Wahrheit um ihrer selbst willen aus, ja schließt eine Wahrheit aus, die etwas anderes sein will als Technik. Entsprechend gibt es auch nichts, was den Eigennutz informieren kann – das heißt nichts außer den Trieben und Instinkten, welche den Menschen mit dem Tier verbinden. Der Mensch wird so auf ein technisch besonders versiertes Tier reduziert. Sozusagen ein Affe mit Atombombe. Das menschliche Lebensziel besteht dann in maximaler Triebbefriedigung mit zweckrationalen Mitteln.
Die ontologische Perspektive auf das technokratische Paradigma
Doch was für eine Struktur des Seins, was für eine Ontologie muss das technokratische Paradigma eigentlich voraussetzen, um zu seinen Schlussfolgerungen zu kommen? Hier kommt der von John Milbank geprägte Begriff einer „ontologischen Gewalt“ [3]Milbank, John, Theology and Social Theory: beyond secular reason, 2nd. edition, Blackwell Publishing Malden, MA, USA – Oxford, UK – Carlton, Australia 2006, S. 278ff. bzw. David Bentley Harts „Metaphysik der Gewalt“ [4]Hart, David Bentley, The Beauty of the Infinite, Wm. B. Eerdmans Publishing, Grand Rapids, Mich. USA 2003. in den Sinn. Eine Ethik der Gewalt impliziert eine Ontologie der Gewalt und so führt das früneuzeitliche Wissenschaftsverständnis Descartes und Bacons direkt zur Metaphysik der Postmoderne.
Eine Ontologie oder Metaphysik der Gewalt führt aber wiederum zu konkreter Gewalt – und damit zu Tod und Zerstörung. Das Problem bei einer Ontologie der Gewalt besteht dabei letztlich darin, dass sie Gewalt und Zerstörung als alternativlos erscheinen lässt und damit überhaupt erst legitimiert.
Damit dient das technokratische Paradigma der Legitimierung von Gewalt und Zerstörung. Es ist sozusagen die Ideologie der Starken und Mächtigen, die auf niemanden mehr Rücksicht nehmen wollen. Eine Welt, in der das technokratische Paradigma herrscht, wird deshalb notwendigerweise immer mehr zu einer Welt der Gewalt und des Todes.
Papst Johannes Paul II. sprach daher auch treffend von einer Kultur des Todes, [5]https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae.html, Nr. 12, 17.07.2022 23:25 Uhr. die sich in unserer Zeit ausbreite. Aus diesem Grund bedarf es einer Alternative, die stattdessen Frieden und Leben in den Mittelpunkt rückt, eben die ganzheitliche Ökologie von Papst Franziskus, aber auch als Antwort auf die Metaphysik der Gewalt eine Metaphysik der Gabe [6]Taylor, Michael Dominic, The Foundations of Nature. Metaphysics of Gift for an Integral Ecological Ethic, Eugene Oregon USA 2020.
von Sascha Vetterle
References[+]
↑1 | https://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si.html , Nr. 101ff, 17.07.2022, 20:30 Uhr |
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↑2 | zum Folgenden vgl. Feser, Edward, Scholastic Metaphysics: A contemporary Introduction, editiones scholasticae vol. 39, Heusenstamm 2014, S. 88ff. |
↑3 | Milbank, John, Theology and Social Theory: beyond secular reason, 2nd. edition, Blackwell Publishing Malden, MA, USA – Oxford, UK – Carlton, Australia 2006, S. 278ff. |
↑4 | Hart, David Bentley, The Beauty of the Infinite, Wm. B. Eerdmans Publishing, Grand Rapids, Mich. USA 2003. |
↑5 | https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae.html, Nr. 12, 17.07.2022 23:25 Uhr. |
↑6 | Taylor, Michael Dominic, The Foundations of Nature. Metaphysics of Gift for an Integral Ecological Ethic, Eugene Oregon USA 2020 |