Jüngst hat Papst Franziskus auf faszinierende Weise auf den Zusammenhang zwischen Liturgie und Menschenwürde hingewiesen. In seinem Schreiben „Desiderio desideravi“ beschreibt der Heilige Vater in den Nummern 27 und 44 Aspekte, die nur folgenden Schluss zulassen:

Die gemeinsame Wurzel der Krise der Liturgie und der Krise der Menschenwürde

Die liturgische Krise wie auch die Krise der Menschenwürde, wie sie sich in Abtreibung, Sterbehilfe, künstlicher Befruchtung, Pornographie und Prostitution zeigt, haben beide ein- und dieselbe Wurzel: die Unfähigkeit des modernen Menschen, Symbole zu verstehen, ja schon sie als solche überhaupt nur zu erkennen.

Warum dies so ist, darauf wurde an anderer Stelle hier bereits eingegangen. Es ist jedoch notwendig hierauf noch einmal einzugehen.

Beginnend mit Immanuel Kant und endgültig mit dem linguistic turn im 20. Jahrhundert hat sich eine radikale Skepsis in Bezug auf die Fähigkeit von Sprache, die Realität adäquat wiederzugeben, herausgebildet, wobei die Ursprünge dessen noch weiter bis zum spätmittelalterlichen Nominalismus zurückverfolgt werden können.

Sprache gibt demnach nicht Realität wieder, sondern konstruiert sie – das heißt: konstruiert sie als Herrschaftsraum. Sprache macht sichtbar und verbirgt.

Durch diese Fähigkeit wird Macht zu- und abgesprochen. Was in der Sprache vorkommt, hat Geltung, hat Gestaltungsmacht. Was in der Sprache nicht vorkommt, ist nicht nur sprachlos, sondern damit zugleich ohnmächtig. Dem ganzen Streit um Gendersternchen liegt diese Vorstellung zugrunde.

Aufgabe von Philosophie und (Kultur)Wissenschaft ist es demnach, Sprachkritik als Herrschaftskritik zu üben und auf diese Weise Machtstrukturen aufzudecken und abzubauen; sie zu dekonstruieren.

Wenn jedoch Sprache nach diesem Verständnis nie etwas anderes sein kann als Herrschaftsmittel, dann muss dieses Projekt im Letzten auf die Abschaffung der Sprache selbst zielen.

Wenn aber Sprache das ist, was den Menschen als Menschen auszeichnet, wie verschiedentlich (unter anderem hier und hier) argumentiert wurde, dann ist die Abschaffung von Sprache gleichbedeutend mit der Abschaffung des Menschen selbst. Im Letzten zielt diese Bewegung damit, wie schon an anderer Stelle gesagt wurde, auf das Nichts.

Was hat das Ganze nun mit der Unfähigkeit des modernen Menschen zu tun, Symbole zu verstehen? Hierzu müssen wir zunächst zurück blicken auf ein älteres Verständnis von Sprache. In diesem älteren Verständnis hat Sprache eine zugleich kreative wie symbolische Bedeutung.

Fangen wir bei der symbolischen Bedeutung an: Worte sind demnach Symbole, die etwas von ihnen Verschiedenes bezeichnen. Sie beziehen ihre Bedeutung aus diesem Bezeichneten und stellen eine Verbindung her, zwischen dem, der sie gebraucht und dem, was sie bezeichnen. Die Struktur von Sprache bildet dabei (einen Teil der) Struktur der Realität ab.

Doch wie kann das möglich sein, insbesondere wenn man bedenkt, dass Sprachen im Laufe der Geschichte und auch noch in unserer Gegenwart sehr unterschiedliche Strukturen aufweisen?

Die Antwort muss lauten: Sprache – jede Sprache – kann eine Verbindung zur Realität herstellen, weil die Realität selbst bereits in ihrem Kern durch Verbundenheit charakterisiert ist. Sprache macht im Grunde nichts anderes als sich an diese Verbundenheit anzudocken, an ihr zu partizipieren.

Und in der Tat: Tag für Tag zeigen uns die vielfältigen Wissenschaften auf neue und tiefere Weise, dass – wie Papst Franziskus in „Laudato si“ schrieb – „in der Welt alles miteinander verbunden ist“ (LS 16). 

Doch wirft dies die Frage auf: Weshalb ist das so? Woher kommt es, dass Verbundenheit ein universales Merkmal der Realität ist? Die Antwort muss wohl lauten: weil Verbundenheit – oder communio – an der Wurzel der Realität selbst zu finden ist und von dort aus in alle ihre Verästelungen ausstrahlt.

Liturgie

Aber nun zur kreativen Bedeutung von Sprache. „Im Anfang war das Wort“ heißt es im Prolog des Johannes-Evangeliums. „Gott sprach und es wurde“ heißt es im ersten Schöpfungsbericht. Beidem liegt die Überzeugung zu Grunde, dass an der Wurzel von allem Sinn liegt, ein Sinn nach dem man fragen, den man finden und in Worte fassen kann. Das altgriechische Wort für Sinn ist dasselbe wie für „Wort“: logos. Im Anfang war der Sinn.

Sinn und Verbundenheit – übrigens zwei der drei Geheimnisse in Johannes Hartls Buch „Eden Culture“ – stehen demnach an der Wurzel der Realität und machen diese für Sprache zugänglich, durch Sprache beschreibbar.

Sprache hat dann nicht den Zweck, Herrschaft und Macht auszuüben, sondern zu verstehen: die Welt da draußen, aber auch den anderen und den Sinn hinter all dem.

Dies ist die Bedingung dafür, dass Kommunikation gelingen kann, ja überhaupt erst möglich wird und damit – communio, Gemeinschaft.

Ja, will Demokratie mehr sein als das Ringen um Mehrheiten, um die eigenen Partikularinteressen auf Kosten anderer durchzusetzen, braucht es dieses Verständnis von Sprache als etwas, das uns miteinander und mit der Realität als Ganzes verbindet.

Andernfalls unterscheidet sich Demokratie nurmehr graduell von Gewaltherrschaft, da in beiden Regierungsformen im Wesentlichen dasselbe geschieht, nur im einen Fall mehr kaschiert. Ebenso braucht es dieses Verständnis von Sprache, damit so etwas wie Wissenschaft überhaupt möglich wird, insofern diese die – auch sprachliche – Beschreibung der Realität sein will.

Demgegenüber hat Sprache in unserer Zeit eine neue, magische Bedeutung angenommen. Sprache bezieht sich nicht als Symbol auf etwas Externes, von ihr Unabhängiges, das sie bezeichnen würde und zu dem sie eine Verbindung herstellen würde. Dem widerspricht schon die noumenon-phaenomenon-Unterscheidung Kants.

Zugleich ist Sprache aber auch nicht kreativ im vorgenannten Sinne. Sie erschafft nicht etwas von ihr Verschiedenes, so wie das Wort Gottes, der Logos, den von ihm verschiedenen Kosmos erschafft. Was macht Sprache dann bzw. was machen wir mit Sprache?

Sprache als Magie

Sie schlägt ihre Hörer in ihren Bann. Sie fesselt ihren Blick auf das, von dem sie will, dass wir es sehen und verschließt unsere Augen vor dem, von dem sie will, dass wir es nicht sehen. Auf diese Weise erzeugt sie die Illusion – und dies ist die einzige Weise, in der sie kreativ ist – dass das eine real ist und das andere nicht. Mithilfe dieser Illusion bringt sie uns dazu, das eine zu tun und das andere zu lassen. Sie zwingt uns so ihren Willen auf und raubt uns damit die Freiheit, auch anders zu handeln. Sie manipuliert und kontrolliert uns. Kurz: Sie tut das, was nach einem älteren, abergläubischen Verständnis die Magie tut: Sie verzaubert uns.

Sprachkritik – als Erbe der Religions- und Ideologiekritik – unternimmt nun den Versuch, die Macht dieses Zauberspruches zu brechen – da sie sich hierzu jedoch derselben sprachlichen Mittel bedient, kann sie nicht anders als die alte Magie durch neue zu ersetzen, sofern sie nicht – siehe oben – die Sprache selbst und mit der Sprache den Menschen abschafft.

Dabei geht die Sprachkritik tatsächlich noch einen Schritt weiter als nur eine alte durch eine neue Magie zu ersetzen, indem sie außerdem die Illusion weckt, die Realität selbst könnte, gerade wie die Sprache, nach Belieben de- und rekonstruiert werden, ja als gäbe es keine vom Menschen unabhängige Realität, sondern lediglich eine amorphe Masse, die nach Belieben geformt werden könne.

Natürlich kann Sprache als Machtinstrument missbraucht werden und tatsächlich geschieht das auch. Wo das der Fall ist, muss das benannt und kritisiert werden. Falsch ist jedoch die Vorstellung, dass der Missbrauch von Sprache deren eigentlicher und einzig möglicher Gebrauch ist.

Ursprünglicher und eigentlicher ist der zuvor genannte Gebrauch als ein Zeichensystem, das tatsächlich etwas Reales bezeichnet – und dies nicht nur vortäuscht, ein Zeichensystem, das auf Verbundenheit und Sinn gründet und zurückverweist.

Hier muss an den Wortursprung von Symbol erinnert werden, das auf das altgriechische Wort symballein zurückgeht: zusammenwerfen. Was zusammengeworfen wird sind Zeichen und Bedeutung, das Wort und das in der Realität, das dieses Wort bezeichnet bzw. benennt. Dieses Zusammenwerfen stiftet Verbindung, zwischen Signifikat und Signifikant, zwischen Sprecher und Welt. 

Das altgriechische Wort für auseinanderwerfen lautet diaballein. Von ihm stammt unser diabolisch. Und genau das ist der Versuch, Sprache ihres Symbolcharakters zu berauben und sie auf magische Formeln (wie den Geschlechtswechsel per Sprechakt) zu reduzieren und zugleich die Realität ihres Sinnes, ihres logos, zu berauben und auf eine formlose Masse zu reduzieren.

Insofern dieser Versuch gelingt – und sein Gelingen ist in der Tat schon weit fortgeschritten, wiewohl er ultimativ nur scheitern kann – bleibt am Ende nur noch der Wille zur Macht als Lösung für Konflikte, da jeglicher Bezug auf eine gemeinsame Wahrheit, die verbindet, die Grundlage entzogen wurde.

Wie sehr in der Allgemeinheit das Vertrauen in die Wahrheitsfähigkeit von Sprache bereits zerrüttet ist, zeigt sich in Phänomenen wie „Fake News“, „alternativen Fakten“ oder dem Misstrauen gegenüber den sog. „Mainstream-Medien“, denen von ihren Kritikern genau ein solcher magischer Umgang mit Sprache vorgeworfen wird.

Hinter all dem steht letztlich eine ganze Ontologie: eine atomisierte Realität, in der die voneinander losgelösten Individuen frei herumfliegen und gegeneinander stoßen, wobei sich der „Stärkere“ durchsetzt. Anthropologisch entspricht dem dann das Hobbessche „homo homini lupus“ – allerdings nicht als Ur-, sondern als Zielzustand. Das ist sozusagen der Gegenentwurf zu einer Communio- oder Logos-Ontologie, die Verbundenheit und Sinn in allem sucht und findet.

Was allein uns von dieser diabolischen Sprachmagie erlöst ist metanoia: umdenken. Die Wiederentdeckung des Symbolcharakters von Sprache und das erneute Fragen nach dem tieferen Sinn, dem logos, hinter den Dingen.

„Desiderio desideravi“ zeigt uns, dass uns hierbei auch eine erneuerte liturgische Praxis helfen kann, die jedoch eine entsprechende liturgische Bildung voraussetzt. Zeit also für eine neue liturgische Bewegung.

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