Der gesamte Menschenrechtsdiskurs folgt dem Aneignungs-Paradigma. Rechte – und so auch Menschenrechte – werden besessen oder erworben. Besitz und Erwerb ist aber aufs engste mit der Logik der Aneignung verknüpft. Erwerb ist selbst eine Form der Aneignung. Das Resultat des Erwerbs ist der Besitz. Dies gilt explizit auch für Menschenrechte, wenn diese beispielsweise durch die Geburt erworben werden.
Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschendienste
Die Fixierung auf das, was ich besitze, auf meine Rechte und Ansprüche, ist die Kehrseite der Aneignung. Es ist der gleiche Versuch, Erfahrungen des Mangels aus eigener Kraft zu bewältigen, eine Auflehnung gegen den Mangel, die sich hierbei auf das Eigene verlässt.
Das demgegenüber von Simone Weil propagierte Konzept der Menschenpflichten wirkt zunächst einmal wie eine Abkehr vom Menschenrechtsdiskurs, doch letztlich ist es nur ein negativ formulierter Menschenrechtsdiskurs. Meine Pflichten anderen gegenüber sind nichts anderes als deren Rechtsansprüche mir gegenüber. Weil wechselt die Perspektive, bleibt aber derselben Logik verpflichtet. Für eine Überwindung des Menschenrechtsdiskurs reichen Menschenpflichten also nicht aus.
Den Menschenrechtsdiskurs transzendiert daher nur ein der Logik der Übereignung folgender Diskurs der Menschendienste. Ein Dienst wird nicht erworben oder besessen, sondern geleistet oder verrichtet. Dabei bleibt ein Dienst-Begriff, der nicht über die Pflichterfüllung hinausgeht, in der Logik der Aneignung verankert. Ein solcher Dienst ist materialisierte Pflicht und damit eine Leistung, auf die der andere ein Anspruch, ein Recht hat.
Damit der Dienstgedanke wirklich der Logik der Aneignung entkommt, muss der geleistete Dienst sich hiervon substantiell unterscheiden und das heißt, er darf nicht geschuldet, sondern muss freiwillig sein; den Charakter einer Gabe, eines Geschenkes haben.
Ein höherer Weg als die Gerechtigkeit
Unbenommen ist dabei, dass es Rechte und Pflichten tatsächlich gibt und Rechte zu achten und Pflichten zu erfüllen ist eine Frage der Gerechtigkeit. Doch die Übereignung folgt einer Logik, welche die Gerechtigkeit nicht negiert, aber sehr wohl übersteigt: die Logik der Liebe. Wie Papst Benedikt XVI. in „Caritas in Veritate“ schrieb:
„Die Liebe geht über die Gerechtigkeit hinaus, denn lieben ist schenken, dem anderen von dem geben, was „mein“ ist; aber sie ist nie ohne die Gerechtigkeit, die mich dazu bewegt, dem anderen das zu geben, was „sein“ ist, das, was ihm aufgrund seines Seins und seines Wirkens zukommt. Ich kann dem anderen nicht von dem, was mein ist, „schenken“, ohne ihm an erster Stelle das gegeben zu haben, was ihm rechtmäßig zusteht.“ (Nr. 6)
Liebe meint hier kein flüchtiges romantisches Gefühl oder sexuelle Anziehung. Liebe meint die Entschlossenheit, das Andere als das Andere zu wollen und sich in seinen Dienst, in den Dienst seines Wohles stellen zu lassen statt entweder das Andere für den eigenen Vorteil zu vereinnahmen oder ihm in geheuchelter Toleranz mit Gleichgültigkeit zu begegnen.
Daraus folgt, dass die Menschenrechte als solche nicht in Frage zu stellen sind, da sie eine Erfordernis der Gerechtigkeit sind. Das gesellschaftliche Zusammenleben – und auch die Politik – auf die Durchsetzung und Verteidigung der Menschenrechte beschränken zu wollen, greift jedoch zu kurz und lässt beides – gesellschaftliches Zusammenleben wie Politik – menschlich verarmen.
So ist es daher auch das große Anliegen der jüngsten Sozialenzyklika von Papst Franziskus – „Fratelli tutti“ – die Liebe als politischen Begriff wieder in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs einzuführen. Die politische Liebe, von der Papst Franziskus spricht, besteht darin
„jeden Menschen als Bruder oder Schwester anerkennen zu wollen und eine soziale Freundschaft zu suchen, die alle integriert.“ (Nr. 180)
Und weiter:
„Diese politische Nächstenliebe hat zur Voraussetzung, dass man ein gesellschaftliches Bewusstsein entwickelt hat, das jede individualistische Mentalität hinter sich lässt: »Die soziale Liebe lässt uns das Gemeinwohl lieben und auf wirkungsvolle Weise das Wohl aller Personen anstreben, die nicht nur als Individuen, sondern auch in der sozialen Dimension betrachtet werden, die sie vereint«“ (Nr. 182)
Sowie:
„»Ein ebenso unverzichtbarer Akt der Liebe ist das Engagement, das darauf ausgerichtet ist, die Gesellschaft so zu organisieren und zu strukturieren, dass der Nächste nicht im Elend leben muss«“ (Nr. 186)
Die politische Liebe lässt uns also strukturelle Fragen stellen. In Anlehnung an „Centesimus Annus“ von Papst Johannes Paul II. spricht Papst Benedikt XVI. in „Caritas in Veritate“ von einem System mit 3 Subjekten: Markt, Staat und Zivilgesellschaft (vgl. Nr. 38).
DIe Logiken von Markt, Staat und Zivilgesellschaft
Im Hinblick auf die Logik des Marktes spricht er dabei vom „Geben, um zu haben“ (vgl. Nr. 39). Der Markt folgt also ganz offensichtlich der Logik der Aneignung, man gibt, aber mit der Absicht, dadurch selbst zu „haben“, das heißt zu erwerben, zu besitzen, nämlich einen Rechtsanspruch auf Bezahlung, auf Vergütung, auf Geld.
Die Logik des Marktes ist also ganz ähnlich wie der Menschenrechtsdiskurs auf das engste verknüpft mit der Logik der Aneignung. Dies würde erklären, weshalb es alles andere als abwegig ist, dass in den letzten Jahrzehnten Menschenrechtsdiskurs und neoliberales Wirtschaftssystem oft Hand in Hand gingen.
Demgegenüber charakterisiert Benedikt XVI. die Logik der Politik bzw. des Staates als „Geben aus Pflicht“. Die Politik steht mit ihrer Logik also näher bei den Menschenpflichten à la Weil. Wenn man nun bedenkt, dass der Pflichtendiskurs aber nichts anders ist als ein invertierter Rechtediskurs und somit beide gleichermaßen der Logik der Aneignung verpflichtet sind, wird wiederum verständlich, weshalb sich einerseits die Politik rhetorisch vor allem auf den Menschenrechtsdiskurs stützt, obwohl sie defacto einer Pflichtenlogik folgt bzw. aufgrund ihres Charakters als mit Zwangsmitteln operierend folgen muss und zugleich Staat und Markt – vielmehr als im Gegensatz zueinander zu stehen – Hand in Hand wachsen.
Von beiden Logiken grenzt Papst Benedikt XVI. die Zivilgesellschaft ab, die einer Logik des ungeschuldeten Gebens, der Unentgeltlichkeit oder des Schenkens folgt. Wir sehen hier deutlich, wie diese Logik der Logik der Übereignung entspricht und sich darin sowohl von der Logik des Marktes wie auch von der Logik des Staates bzw. der Politik abgrenzt.
Wo nun nur die Logiken von Staat und Markt gelten „gehen langfristig die Solidarität in den Beziehungen zwischen den Bürgern, die Anteilnahme und die Beteiligung sowie die unentgeltliche Tätigkeit verloren“ (Nr. 39).
„Die exklusive Kombination Markt-Staat zersetzt den Gemeinschaftssinn. Die Formen solidarischen Wirtschaftslebens hingegen, die ihren fruchtbarsten Boden im Bereich der Zivilgesellschaft finden, ohne sich auf diese zu beschränken, schaffen Solidarität.“
Wenn daher Papst Franziskus fordert,
„die Gesellschaft so zu organisieren und zu strukturieren, dass der Nächste nicht im Elend leben muss“
, so dürfen wir nicht allein an materielles Elend denken, sondern ebenso an das Elend desjenigen, der zwar in materiellem Überfluss oder doch ohne materiellem Mangel lebt, aber auch ohne Solidarität in den Beziehungen zwischen den Bürgern, ohne Anteilnahme zu erfahren und zu schenken, ohne Beteiligung sowie ohne unentgeltlicher Tätigkeit. Ein Gebot politischer Liebe ist es daher,
„eine fortschreitende Offenheit auf weltweiter Ebene für wirtschaftliche Tätigkeiten, die sich durch einen Anteil von Unentgeltlichkeit und Gemeinschaft auszeichnen“
zu fördern.
Nicht vergessen werden darf dabei:
Charta der Menschendienste
Die Zivilgesellschaft als
wächst von unten oder gar nicht. Wachsen wird sie aber in dem Umfang, in dem jeder einzelne von uns sich vom Dienstgedanken – statt von Rechten und Pflichten – leiten lässt. Eine Inspiration hierfür, quasi als Charta der Menschendienste, können die Werke der leiblichen und geistigen Barmherzigkeit bieten.