Dr. Blume begründet hier ausführlich seine Haltung zur Abtreibungsfrage. Dr. Blume argumentiert hierzu weltanschaulich-philosophisch, christlich-religiös und demokratisch-rechtlich.
Die weltanschaulich-philosophische Begründung von Dr. Blume
Dr. Blume wendet sich gegen eine Definition von Abtreibung als „absolut böse“ oder gar „Mord“. Sein Argument: Hieraus folge zwingend, dass andere Güter – er benennt als solche konkret „die körperliche und seelische Gesundheit der Mutter, Traumata durch Vergewaltigungen u.a.“ – hintangestellt werden müssten.
Hierzu ist anzumerken, dass politische – wie auch ethische – Praxis immer (auch) eine Güterabwägung beinhaltet bzw. erfordert. Das Ergebnis einer solchen Güterabwägung besteht darin, dass bestimmte Güter als vorrangig betrachtet und andere diesen hintangestellt werden. Dies ist per se nicht problematisch, sondern begründet gerade die Bedeutung – und man möchte hinzufügen: den Reiz – von Ethik und Politik. Die Frage ist nicht, ob man bestimmte Güter hintanstellt, sondern welche und weshalb.
Dr. Blume ist offensichtlich der Auffassung, dass andere Güter – seine Liste ist bewusst offen gehalten – höher zu bewerten sind als das Leben des Ungeborenen. Warum dies so ist, begründet er nicht im streng philosophischen Sinne. Stattdessen argumentiert er historisch-empirisch und führt dabei zwei Argumente an:
Zum einen verweist er auf die Inkonsequenz vieler Lebensschützer, denen das Leben von Menschen in anderen Fällen als Abtreibung herzlich egal zu sein scheint. Konkret verweist er darauf, dass viele Lebensschützer „wenig gegen Armut, fehlende Kranken- und Sozialversicherung für Mütter, privaten Waffenbesitz usw. einzuwenden haben“ und erklärt im gleichen Sinne:
„Wären Regierungen von US-Staaten wie Texas tatsächlich “proLife”, dann würden sie nicht hohe Müttersterblichkeit, Armuts- und Mordraten, Gewalt und Rassismus hinnehmen.“
Nun mag der Vorwurf der Inkonsequenz viele Vertreter der (US-)Lebensschutzbewegung zurecht treffen. Diese Kritik teilt Dr. Blume mit den Vertretern der konsistenten Lebensethik, also jenem Teil der Lebensrechtsbewegung, gegen den Dr. Blume sein Argument nicht in Stellung bringen kann. Nun mag dieser Teil der Lebensrechtsbewegung klein(er) sein, jedoch ist die quantitative Größe der Gruppe ihrer Vertreter (oder deren Fehlen) kein Argument für oder wider eine philosophische Position. Leider blendet Dr. Blume aber jenen Teil der Lebensrechtsbewegung aus, der seine Anliegen aufgreift, und beschränkt sich in seiner Kritik auf einen zahlenmäßig stärkeren, intellektuell jedoch schwächeren Gegner.
Anzumerken bleibt jedoch: Wenn jemand seine Logik nicht auf alle Bereiche anwendet, auf die man sie konsequenterweise anwenden muss, macht dies zwar den Betreffenden inkonsequent und damit unglaubwürdig, aber die Logik selbst deshalb noch lange nicht falsch.

Dr. Blume arbeitet sich hier – wie auch im christlich-religiösen Abschnitt – ausgiebig an der – unstrittigen – Unglaubwürdigkeit vieler Vertreter der Lebensschutzbewegung ab; ein philosophisches Argument gegen die prolife-Position ist das jedoch nicht.
Zum anderen argumentiert Dr. Blume mit den negativen Konsequenzen eines Abtreibungsverbotes und verweist hierbei auf historische Erfahrungen. Ohne es explizit zu machen folgt Dr. Blume hier also einer konsequentalistischen Ethik. Das Argument lautet in nuce: Die negativen Konsequenzen eines Abtreibungsverbotes übersteigen die positiven.
Interessant ist hierbei auch, wie Dr. Blume seinen Konsequentialismus mit einem Fatalismus kombiniert: Weil Abtreibungsverbote – im Sinne einer konsequentalistischen Ethik – historisch-empirisch scheiterten, werden sie das auch wieder tun.
Man beachte: Die Möglichkeit, aus historischen Erfahrungen zu lernen und begangene Fehler nicht zu wiederholen, wird ausgeschlossen. Wobei es auch möglich ist, dass Dr. Blume an dieser Stelle nicht versucht, ein ehernes historisches Gesetz zu formulieren, sondern vom politisch-historischen Status quo ausgehend probabilistisch argumentieren möchte.
In jedem Fall sei hier im Sinne der konsistenten Lebensethik erwidert, dass es nicht politischer Anspruch einer aufgeklärten Bürgerschaft sein kann, einen ethisch unhaltbaren Zustand – nämlich die faktische Rechtlosigkeit ungeborener Menschen – allein aus Angst vor dem möglichen Rückfall in vermeintlich oder tatsächlich schlechtere Zeiten ad infinitum zu perpetuieren.
Gefordert ist vielmehr ein politischer Einsatz, der darauf zielt, einen möglichst umfassenden rechtlichen Schutz ungeborener Menschen mit einem möglichst umfassenden rechtlichen Schutz ihrer Mütter zu verbinden.
Zum Schluss dieses Abschnittes soll jedoch nicht nur kritisiert werden, sondern auch philosophische Argumente für die Priorität des Gutes des Leben des Ungeborenen angeführt werden:

Wie eingangs beschrieben besteht die Abtreibungsproblematik darin, dass unterschiedliche Güter in Konflikt miteinander stehen, so dass eine Güterabwägung erforderlich ist. Die wesentlichen miteinander im Konflikt stehenden Güter sind das Selbstbestimmungsrecht der Mutter einerseits und das Lebensrecht des Ungeborenen.
Die Konfliktsituation ergibt sich daraus, dass beide Güter nicht gleichzeitig uneingeschränkt Geltung beanspruchen können. Wiegt das Selbstbestimmungsrecht der Mutter schwerer als das Lebensrecht des Ungeborenen, erlaubt dies im Zweifelsfall der Mutter in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechtes entgegen des Lebensrechts des Ungeborenen diesem das Leben zu nehmen bzw. nehmen zu lassen, wenn sie ein vorzeitiges Ende der Schwangerschaft wünscht.
Wiegt das Lebensrecht des Ungeborenen dagegen schwerer als das Selbstbestimmungsrecht der Mutter, hat sie diese Möglichkeit nicht, sondern muss die Schwangerschaft bis zu deren natürlichen – oder via Kaiserschnitt herbeigeführten – Ende fortsetzen.
Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Welches dieser beiden Rechte wiegt schwerer? Anders formuliert: In welchem Fall ist der Eingriff in das betreffende Recht schwerwiegender?
Es gibt zumindest einen guten Grund anzunehmen, dass der Eingriff in das Lebensrecht schwerer wiegt als der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht. Welchen? Der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht ist temporär. Jede Schwangerschaft endet einmal. Es stimmt natürlich, dass die Folgen einer Schwangerschaft und – zu einem gewissen Grad – die Erinnerungen an sie bleiben. Doch die Frau lebt weiter und kann sich hierzu – in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechtes – verhalten.*
Der Eingriff in das Lebensrecht dagegen ist in jedem Fall ein endgültiger. Das Lebensrecht wird nicht – wie im Falle des Selbstbestimmungsrechtes der Frau – in einem speziellen, wenn auch zugegebenermaßen wichtigen, Bereich zeitweise aufgrund eines höheren Gutes suspendiert, sondern dauerhaft und unwiederbringlich vollkommen aufgehoben – und mit ihm zugleich und auf alle Zeiten das Selbstbestimmungsrecht des Ungeborenen.
Das Lebensrecht ist somit nicht nur das fundamentalere der beiden Rechte, da das Selbstbestimmungsrecht auf diesem aufbaut, und schon von daher das gewichtigere. Zugleich ist der Eingriff in das Lebensrecht schwerwiegender als der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht, da ersterer seinem Wesen nach zeitlich unbegrenzt, letzterer dagegen zeitlich begrenzt ist. Aus all dem folgt der wohl begründete Vorrang des Lebensrechts des Ungeborenen gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter.
Doch soll hier nicht allein auf der Ebene einer rein individualistischen Ethik stehen geblieben werden. Auch als Gemeinwesen bezahlen wir einen hohen Preis, wenn wir uns daran gewöhnen, die Tötung von Menschen als akzeptable Lösung für unsere Probleme anzusehen, wodurch zugleich die Bereitschaft steigt, diesen Lösungsansatz auch auf andere Problembereiche anzuwenden.
Die religiös-christliche Begründung von Dr. Blume
Wie schon gesagt verwendet Herr Dr. Blume einen erheblichen Teil dieses Abschnittes darauf, die Unglaubwürdigkeit wesentlicher Teile der zeitgenössischen Lebensschutzbewegung herauszuarbeiten. Wiederum gilt: Ein religiös-christliches Argument im eigentlichen Sinne ist das nicht.
Bedenklich ist jedoch schon die Überschrift dieses Abschnittes, insofern diese die religiös-christliche Dimension der Thematik auf die Frage reduziert: „Was sagt die Bibel?“ Eine solche Fragestellung mag für den innerprotestantischen Diskurs hinreichend sein, schließt jedoch katholische und orthodoxe Diskussionspartner von vorneherein aus, insofern diese nicht dem sola scriptura-Dogma folgen.
Immerhin erwähnt Dr. Blume, dass die für die jüngste Supreme-Court-Entscheidung verantwortlich zeichnenden Richter allesamt katholisch sind. Auf die katholische Position zum Thema Abtreibung geht Herr Dr. Blume jedoch trotzdem nicht näher ein. Herr Dr. Blume behauptet zwar
„Auch die Vorstellung einer einheitlichen Haltung “der Bibel” oder gar “der Religion” ist entsprechend dualistischer Blödsinn: Tatsächlich werden Texte und Traditionen immer wieder neu ausgelegt und gab es in der ganzen Religionsgeschichte keinen Moment, in dem Gelehrte “der Bibel” oder auch nur Christ:innen einheitlich Abtreibung als Mord gelesen hätten.“
Tatsache ist, dass es keinen Zeitpunkt gibt, zu dem die katholische Kirche Abtreibung gutgeheißen hätte – einzelne Katholiken mögen es in jüngster Zeit anders gesehen haben, doch haben diese nicht die Autorität, für die katholische Kirche als Ganzes zu sprechen.
Bereits die Didache, ein frühkirchlicher Text aus dem 1. Jahrhundert nach Christus und älter als Teile des Neuen Testamentes, verurteilt Abtreibung unzweideutig – und bis zum heutigen Tag hat sich an der Haltung der katholischen Kirche als Gemeinschaft hierzu nichts geändert.
Dabei ist unbenommen, dass, wie von Dr. Blume betont, sich Auslegungen im Laufe der Zeit wandeln. So ging beispielsweise noch Thomas von Aquin im Mittelalter davon aus, dass ein Embryo erst gewisse Zeit nach der Empfängnis beseelt würde – und lehnte dennoch Abtreibung zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft ab. Unsere heutigen embryologischen Kenntnisse sind viel weiter als im Mittelalter – und untermauern nur umso fester die katholische Position zu Abtreibung.
Die rechtlich-politische Begründung von Dr. Blume
Dr. Blume wendet sich hier gegen den originalistischen Ansatz zur Interpretation der US-Verfassung, der dem Urteil des Supreme Court vom vergangenen Freitag zugrundeliegt. Da Dr. Blume mit keinem Wort die innere Logik des originalistischen Ansatzes in Frage stellt, sondern lediglich dessen Prämissen, muss besagte innere Logik an dieser Stelle auch nicht verteidigt werden. Man kann vielmehr unterstellen, dass Dr. Blume die innere Logik dieses Ansatzes implizit akzeptiert.
Zur Debatte steht also nur, was daraus folgt, wenn man, wie Dr. Blume, die Prämissen des originalistischen Ansatzes bestreitet. Allerdings gibt es auch dann, wenn man vom liberalen, von Dr. Blume vertretenen, Ansatz einer „living constitution“ ausgeht, wie gesehen, solide philosophische Gründe, Roe vs. Wade als einen folgenschweren Fehler anzusehen und daher zu revidieren.
* Hier mag erwidert werden, dass Abtreibungsverbote gerade dazu führen können, dass das Leben der Frau eben nicht weiter geht, wenn sie etwa an den Folgen einer illegal durchgeführten Abtreibung stirbt. Hier ist jedoch zu beachten, dass sie nicht wegen des Abtreibungsverbotes stirbt, sondern infolge ihrer Entscheidung, gegen das Abtreibungsverbot zu verstoßen (sofern sie hierzu nicht von Dritten gezwungen wird, was wiederum selbst eine Straftat wäre).