Politische bzw. staatsbürgerliche Tugenden

Bislang wurden die Tugenden hinsichtlich des Menschen als  vernunftbegabtes Lebewesen im engeren Sinne untersucht, also jene Tugenden, die für die Funktionsfähigkeit von Intellekt (Weisheit und Klugheit) und freien Willen (Tapferkeit, Besonnenheit, Demut) an sich erforderlich sind.

Aus dem Umstand, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Lebewesen, ein zoon logikon, ist folgt aber weiters, dass der Mensch ein zoon politikon ist, ein politisches oder vielmehr staatenbildendes Wesen.

Im Gegensatz zu anderen sozialen Lebewesen, die auch in Gruppen leben, aber in einer ihrer Spezies vorgegebenen Form, bilden Menschen kraft Intellekt und freiem Willen Gemeinwesen, die ihren eigenen Gesetzen folgen und die sich demzufolge auch untereinander auf vielfältige Weise unterscheiden.

Aristoteles erklärt den Zusammenschluss von Menschen zu politischen Gebilden dadurch, dass kein Mensch für sich selbst autark ist, das heißt ohne fremde Hilfe zu einem guten Leben fähig ist. Mit anderen Worten: Wir Menschen sind für die volle Entfaltung unserer menschlichen Anlagen auf die Unterstützung durch andere Menschen – und dabei nicht nur unseres oikos, unseres unmittelbaren Haushaltes – angewiesen.

Das Leben in politischer Gemeinschaft ist also notwendiger Bestandteil des menschlichen telos. Das impliziert auch, dass es spezifische politische bzw. (staats)bürgerliche Tugenden geben muss, die uns zum Leben in einer politischen Gemeinschaft befähigen.

Die politischen Tugenden: Gemein-/Bürgersinn und Gerechtigkeit

Die wichtigste dieser Tugenden scheint der Gemein- oder Bürgersinn zu sein. Hierunter verstehe ich das Interesse am Gemeinwesen und den Einsatz für dessen Wohl nach den jeweiligen Möglichkeiten. Dieser Gemein- oder Bürgersinn wird sich in besonderer Weise auf die Belange der Schwächsten und Ärmsten richten.

Die entsprechenden Laster sind einerseits, in Anlehnung an die ursprüngliche Bedeutung im alten Griechenland, die Idiotie als mangelnder Bürgersinn, im Sinne einer Beschränkung von Interesse und Engagement auf das unmittelbare persönliche Umfeld, und andererseits ein Übermaß an Bürgersinn, bei dem eine unangemessene Einmischung in fremde Angelegenheiten erfolgt, die Privatsphäre anderer verletzt und eine übertriebene Konformität eingefordert wird. Bei diesem Laster könnte man von Konformismus oder Spießigkeit sprechen.

Dieses Laster kann sich einerseits im Alltag und Privatleben oder andererseits im politischen Engagement, aber auch in beiden Bereichen zugleich, äußern.

Eine Sonderform der Idiotie besteht im politschen Engagement, allerdings nicht im Dienste des Gemeinwohls, sondern zur einseitigen Durchsetzung von Partikular- oder Individualinteressen zulasten des Gemeinwohls (im Unterschied zu einem legitimen Einsatz für Partikular- und Individualinteressen im Einklang mit dem Gemeinwohl).

Die politischen Tugenden

Am Übergang von politischen und sozialen Tugenden steht die Gerechtigkeit.[1]Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Reclam Verlag Ditzing 2019, V., S. 118-150. Sie ist die Eigenschaft, jedem – sowohl im zwischenmenschlichen Bereich als auch im Verhältnis Gemeinwesen – Bürger – das zu geben, was ihm zusteht – und damit Grundvoraussetzung für ein friedvolles Zusammenleben in jeder Gemeinschaft.

Der Mangel an Gerechtigkeit ist die Ungerechtigkeit, die darin besteht, anderen vorzuenthalten, was ihnen zusteht. Im eigentlichen Sinne gibt es kein Übermaß an Gerechtigkeit. Jemanden mehr zu geben, als ihm zusteht, ist per se kein Laster, sondern fällt als Großzügigkeit bzw. Freigebigkeit eher unter die sozialen Tugenden.

References

References
1 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Reclam Verlag Ditzing 2019, V., S. 118-150.