Warum wir Tugenden brauchen

Als vernunftbegabte Lebewesen haben Menschen die Finalursache, das Ziel (griech.: telos), die Wahrheit zu erkennen und ihren Willen an ihr auszurichten. Indem wir das tun, handeln und leben wir gemäß unserer menschlichen Natur.

Da äußere (Nicht)Einflussnahme durch andere Menschen die Erlangung dieses Zieles beeinträchtigen und auch ganz konkret verhindern kann, gibt es die Menschenrechte. Diese sollen sicherstellen, dass genau das nicht geschieht.

Zu dem beschriebenen Außen gibt es jedoch auch ein korrespondierendes Innen. Nicht nur äußere menschliche Einflussnahme kann Menschen daran hindern, ihr telos zu erreichen. Auch innere menschliche Einflussnahme kann diese Auswirkung haben.

Ein Beispiel hierfür sind die – negativen – Auswirkungen gewohnheitsmäßigen Alkoholkonsums auf Intellekt und freien Willen. Den nach außen gegenüber Staat und Mitmenschen als Ermöglicher des telos wirksamen Menschenrechten korrespondieren daher nach innen die Tugenden.

Was Tugenden sind

Tugenden sind der Erreichung des telos förderliche innere Haltungen bzw. Eigenschaften.[1]Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Reclam Verlag Ditzing 2019, II. 4, S. 41f. Eine solche Tugend zu besitzen bedeutet, dass man dieser Haltung bzw. Eigenschaft entsprechende Handlungen

a) wissentlich

b) intrinsisch motiviert

c) regelmäßig (im Gegensatz zu zufällig oder stimmungsabhängig)[2]Vgl. ebd. II. 3, S. 40f.

d) mit einer gewissen Leichtigkeit und Übung (im Gegensatz zu mühevoll und unbeholfen) und

e) mit einer gewissen Freude daran (statt widerwillig-missmutig)[3]Vgl. ebd. II. 2, S. 38-40.

vollzieht bzw. vollziehen kann.

Der letzte Punkt verdient es noch einmal unterstrichen zu werden: Tugenden auszuüben macht Freude. Macht etwas (noch) keine Freude, ist es (noch) keine Tugend. Der Umkehrschluss gilt allerdings nicht: Nicht alles, was Freude macht, ist auch eine Tugend, sondern nur das, was dem telos dient; in unserem Fall als Menschen also zunächst einmal dem Finden der Wahrheit und ein ihr entsprechendes Handeln und Leben.

Bezogen auf Alkoholkonsum wäre es also eine Tugend, gerne beim Alkoholtrinken Maß zu halten oder auch ganz auf den Genuss von Alkohol zu verzichten. Bei Aristoteles heißt diese Tugend Besonnenheit. Keine Tugend wäre es dagegen, nur zufällig, widerwillig oder unter Mühen auf exzessiven Alkoholkonsum zu verzichten.

Um das menschliche telos zu erreichen braucht es also Tugenden nicht minder, ja wohl noch mehr, als die Menschenrechte. Die Menschenrechte bieten sozusagen die Möglichkeit, die Tugenden die Fähigkeit, unser telos zu erlangen.

Dass wir die Tugenden für ein gelingendes Leben brauchen, ist damit also klar. Welche Tugenden wir brauchen muss an dieser Stelle aber offen bleiben.

Tugenden

Tugenden werden aber eingeübt, erlernt, trainiert. Das macht die Notwendigkeit einer Tugenderziehung evident.[4]Vgl. ebd, X, 10, S. 290-294. Ja, es stellt sich die Frage, ob die Tugenderziehung selbst nicht als ein Menschenrecht eingestuft werden sollte.

Denn als Eltern, Erzieher, Lehrer und als Gemeinwesen insgesamt haben wir kein Recht dazu, unsere Kinder und Jugendlichen etwa zu unbesonnenen Menschen zu erziehen. Wir haben vielmehr die Pflicht dazu, sie etwa zu besonnenen Menschen zu erziehen. Die Kinder und Jugendlichen sind unserer Verantwortung anvertraut. Dieser Verantwortung entspricht es nicht, sie an der Erlangung ihres telos zu hindern. Vielmehr ist es unser Auftrag, sie darin zu fördern.

References

References
1 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Reclam Verlag Ditzing 2019, II. 4, S. 41f.
2 Vgl. ebd. II. 3, S. 40f.
3 Vgl. ebd. II. 2, S. 38-40.
4 Vgl. ebd, X, 10, S. 290-294.