Was bedeutet Naturrecht?

Um zu verstehen, was mit Naturrecht gemeint ist, muss man zunächst wissen, was der Begriff Natur im Sinne von Aristoteles meint. Natur ist der Zustand der vollen Entfaltung, das heißt Aktualisierung, des eines Lebewesens innewohnenden Potentials. Die Natur ist sozusagen die Finalursache eines Lebewesens.

Ein Prozess, der hierzu führt, ist naturgemäß. Prozesse, die nicht zu diesem Ziel führen, oder Faktoren, welche die Erreichung dieses Zieles be- oder verhindern, sind naturwidrig.

Auf der Ebene der Tier- und Pflanzenwelt können hierzu äußere Faktoren wie Nahrungsknappheit, aber auch innere Faktoren wie zum Beispiel ein genetischer Defekt zählen. Auf der Ebene des Menschen kommt ein weiterer Faktor hinzu: der freie Wille.

In der auf Aristoteles zurückgehenden Tradition wird der Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen verstanden. Er verfügt über Intellekt und – daher auch – freien Willen. Die volle Entfaltung seines Intellekts besteht in der Erkenntnis der Wahrheit. Die volle Entfaltung des Willens besteht darin, in Übereinstimmung mit der vom Intellekt erkannten Wahrheit zu wollen.

Ein Widerspruch zwischen Intellekt und Wille würde einen Zwiespalt in den Menschen hineintragen und dessen voller Aktualisierung entgegen stehen. Ein solcher Mensch steht sich sprichwörtlich selbst im Weg, blockiert sich selbst. Und doch ist es genau das, was wir immer und immer wieder beobachten müssen.

Zum Beispiel kann jemand mit seinem freien Willen die Entscheidung treffen, statt mit Hilfe des Intellektes die Wahrheit zu suchen, seine Sorgen in Alkohol zu ertränken. Tut er dies nur beharrlich genug ist die Konsequenz zum einen, dass die Leistungsfähigkeit seines Intellekts abnimmt.

Naturrecht

Das heißt: Selbst wenn er sich zu irgendeinem späteren Zeitpunkt doch dafür entscheiden würde, nun nach der Wahrheit zu suchen, wäre die Ausgangslage hierfür weniger günstig, da er durch seine früheren Entscheidungen seinen Intellekt, und damit die Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, bereits nachhaltig beschädigt hätte.

Doch nicht nur das: Da Alkoholkonsum ab einem gewissen Punkt zu körperlicher Abhängigkeit führen kann, hätte der freie Wille mit seiner oben beschriebenen Entscheidung nicht nur die Entscheidung getroffen, den Intellekt nachhaltig zu schwächen.

Er hätte außerdem die Entscheidung getroffen, eine Abhängigkeit zu schaffen, die ihn selbst bindet und ihm zunehmend die Möglichkeit nimmt, eine andere Entscheidung zu treffen.

Naturrecht: Konsequenz des freien Willens

Der freie Wille hat es also nicht nur in der Hand, den Intellekt – sowie sämtliche anderen Teile des Menschen – zu schädigen, ja zu zerstören, sondern auch sich selbst. Dies ist der Punkt, an dem moralische Verantwortung und auch Schuld in das Ganze hereintritt.

Der Mensch ist das Wesen, das in der Lage ist, zu entscheiden, entweder die Verwirklichung seines Potentials zu verfolgen oder, stattdessen, sich selbst zu schädigen, ja zu zerstören.

Kurz: Ob er gemäß seiner Natur oder wider seiner Natur lebt, ist nicht nur eine Frage von externen oder internen Faktoren, die sich beide seiner Kontrolle letztlich entziehen. Nein: Im Wesentlichen ist es seine Entscheidung.

Das Naturrecht ist eine Reflektion darüber, welche Entscheidungen förderlich für die Verwirklichung des menschlichen Potentials sind und welche nicht und welche Rechte und Pflichten daraus für den einzelnen, aber auch für die politische Gemeinschaft erwachsen.