Was bedeutet menschliche Natur?

Wenn in der auf Aristoteles zurückgehenden Tradition von Natur gesprochen wird, meint das nicht Natur im Gegensatz zu Kunst oder Kultur. Gemeint ist auch nicht das, was empirisch in der Pflanzen- und Tierwelt festgestellt werden kann. Um zu verstehen, was mit Natur bei Aristoteles gemeint ist, müssen daher zuerst einige andere Begriffe geklärt werden.

Eine grundlegende Unterscheidung bei Aristoteles ist jene zwischen Substanz und Akzidenz. Eine Substanz ist etwas, das „in sich selbst steht“ und das daher für sich genommen untersucht und auch verstanden werden kann. Eine Akzidenz dagegen ist immer in irgendeiner Form abhängig von einer Substanz und daher nur in Verbindung mit dieser verstehbar.

Zu den Akzidenzien zählen beispielsweise Artefakte. Diese sind nur verständlich von ihren Erbauern oder Nutzern her. So ist beispielsweise ein Stuhl unverständlich und sinnlos, wenn man ihn losgelöst von dem betrachtet, der ihn erbaut hat oder nutzt. Ein weiteres Beispiel für Akzidenzien sind Organe. Losgelöst betrachtet von dem Organismus, zu dem sie gehören, sind sie unverständlich, sinnlos.

menschliche Natur

Zu den Substanzen zählen dagegen sämtliche Lebewesen und anorganischen Stoffe. Bei beidem handelt es sich um in sich abgeschlossene Einheiten, die daher auch in sich verständlich sind. Und dennoch unterscheiden wir Lebewesen und anorganische Stoffe. Es muss also neben dem, was sie eint – nämlich, dass sie Substanzen sind – auch etwas geben, das sie unterscheidet. Das sind ihre unterschiedlichen Wirkweisen.[1]Feser, Edward, Scholastic Metaphysics. A Contemporary Introduction, editiones scholasticae vol. 39, Heusenstamm Deutschland 2014, S. 90f.

Anorganische Stoffe wirken ausschließlich transeunt bzw. transient. Das heißt sowohl der Anstoß ihres Wirkens als auch das Resultat ihres Wirkens liegen außerhalb ihrer selbst. Ein Stein wirkt nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil er von außen durch etwas anderes angestoßen wurde, etwa durch einen anderen Stein. Und einmal angestoßen wirkt der Stein nicht auf sich selbst ein, sondern auf etwas anderes, zum Beispiel einen weiteren Stein, den er wiederum anstößt.

Auch Lebewesen können transeunt wirken, wenn etwa eine Person von einer anderen Person auf eine dritte gestoßen wird. Darüber hinaus wirken Lebewesen aber auch immanent. Das heißt, dass sowohl der Anstoß zu ihrem Wirken als auch das Resultat ihres Wirkens in ihnen selbst liegt. Ein Beispiel hierfür ist der Stoffwechsel.

Was menschliche Natur bedeutet

Immanentes Wirken zielt auf die Aktualisierung des immanenten Potentials, das heißt also jenes Potentials, das ein Lebewesen aufgrund seiner spezifischen Form in sich trägt. Die volle Entfaltung dieses Potentials ist das, was Aristoteles als die Natur einer Sache bezeichnet.[2]Vgl. Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übersetzt und herausgegeben von Fran F. Schwarz, Reclam Verlag, Ditzingen 1989, I. 1, S. 78.

Jedes Lebewesen zielt darauf, sein Potential voll zu entfalten, das heißt voll zu aktualisieren. Ein Prozess, bei dem einem Lebewesen dies gelingt, ist in diesem Sinne naturgemäß oder gemäß seiner Natur, da seine Natur auf diese Weise zur vollen Geltung gelangt. Ein Prozess, bei dem einem Lebewesen dies – aus welchen Gründen auch immer, seien sie nun extern (wie ein Mangel an Nahrung) oder intern (wie ein Gendefekt) – nicht gelingt, ist naturwidrig oder wider seiner Natur.

Die Begriffe naturgemäß bzw. naturwidrig haben dabei auf dieser Ebene noch keine wertende Bedeutung, sondern sind rein deskriptiv und dienen allein analytischen Zwecken. Menschliche Natur meint also die volle Entfaltung des einem Menschen als Menschen innewohnenden Potentials.

References

References
1 Feser, Edward, Scholastic Metaphysics. A Contemporary Introduction, editiones scholasticae vol. 39, Heusenstamm Deutschland 2014, S. 90f.
2 Vgl. Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übersetzt und herausgegeben von Fran F. Schwarz, Reclam Verlag, Ditzingen 1989, I. 1, S. 78.