Die charakterlichen Tugenden

Die Wahrheit zu suchen und das eigene Handeln und Leben an ihr auszurichten, verlangt die Bereitschaft, Risiken einzugehen und hierfür Opfer in Kauf zu nehmen. Diese Tugend nennt Aristoteles Tapferkeit.

Die charakterlichen Tugenden

Hiervon verschieden ist die Bereitschaft, wahllos, das heißt irrational, Risiken einzugehen und unverhältnismäßige Opfer in Kauf zu nehmen: die Tollkühnheit. Hierbei handelt es sich um ein Übermaß an Tapferkeit. Der Mangel an Tapferkeit ist die Feigheit, die in der fehlenden oder nicht hinreichenden Bereitschaft besteht, um der Wahrheit willen Risiken einzugehen und Opfer in Kauf zu nehmen.

Eng mit der Tapferkeit verbunden ist die Eigenschaft, die einen befähigt, zum Ziel der Wahrheitsfindung und des Lebens gemäß der Wahrheit in Konkurrenz stehende tatsächliche oder vermeintliche Güter mit einer inneren Distanz zu betrachten und so zu behandeln, dass sie dem eigentlichen Ziel nicht in den Weg kommen. Diese Tugend wird Besonnenheit genannt.[1]Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Reclam Verlag Ditzing 2019, III. 13-15, S. 81-87. Aristoteles beschränkt die Besonnenheit auf körperliche … Continue reading

Die charakterlichen Tugenden: Tapferkeit, Besonnenheit, Demut

Ihr Mangel, also die Eigenschaft, sich durch konkurrierende Werte vom eigentlichen Ziel ablenken oder ganz abbringen zu lassen, wird Zügellosigkeit oder Unmäßigkeit genannt. Ein Übermaß an Besonnenheit nennt Aristoteles Stumpfsinnigkeit. Sie bestünde in diesem Kontext in einer habituellen Vernachlässigung vitaler Bedürfnisse wie Schlaf und Nahrung, die sich wiederum nachteilig auf den Intellekt bzw. dessen Leistungsfähigkeit auswirken würde.

Niemand wird die Wahrheit suchen, der glaubt, bereits in ihrem vollkommenen Besitz zu sein. Ebenso wird niemand die Wahrheit suchen, der es für vollkommen ausgeschlossen hält, der Wahrheit jemals in irgendeiner Form näherzukommen. Ersteres ist Hochmut, letzteres Kleinmut. Die Tugend, zu wissen, dass man nicht im Vollbesitz der Wahrheit ist, es aber für möglich zu halten, diesem näherzukommen, ist die Demut.

Ohne Demut ist auch kein Dialog möglich, da Hochmut allein den Monolog als sinnvoll ansehen lässt, während Kleinmut jede Form von Sprechen als sinnlos erscheinen lässt. Ohne Demut kann es daher auch nicht Frieden und Versöhnung geben.

References

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1 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Reclam Verlag Ditzing 2019, III. 13-15, S. 81-87. Aristoteles beschränkt die Besonnenheit auf körperliche Genüsse, die mit dem Tastsinn verbunden sind (vgl. III. 13) und verweist darauf, dass man niemanden, der sich an visuellen Dingen erfreue maßvoll oder unmäßig nenne. Spätestens mit der Erfindung von Fernsehen und Internet kann diese Aussage als überholt gelten. Der Begriff Besonnenheit wird so auch hier in einem gegenüber Aristoteles erweiterten Sinne verwendet.